Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?
23-SEP-2002

Einige Feststellungen zur Zentralisierung der Vorbereitung der Kunstturner auf die WM  2003 und die Olympischen Spiele 2004
(- von Eduard Friedrich, Vizepräsident olympischer Spitzensport des DTB - )

 


Eduard Friedrich

Nach den Olympischen Spielen in Sydney waren in diesem „Gymforum“ die Klagen über die Zukunft des deutschen Kunstturnens nachzulesen und die Rufe nach Veränderungen zu vernehmen.
Im Verlaufe der 90er Jahren hatte sich die längere Zeit schöngeredete - durch Erfolge  hauptsächlich von Andreas Wecker und Valeri Belenki  übertünchte - sportliche Situation so negativ verändert, dass die Einstufung des männlichen Kunstturnens im finanzwirksamen Fördersystem des DSB für die Periode 2001 bis 2004 in der 4-stufigen Skala zwischen der untersten und der vorletzten Stufe erfolgte.

Unter Berücksichtigung  vorheriger Erfolge drückte sich dies zunächst in Finanzen- und Ressourcenzuwendungen noch geringfügig aus, doch Gespräche mit dem DSB auf verschiedensten Ebenen machten sehr deutlich, 

dass diese „Schonzeit“ bis Athen befristet ist und danach mit Reduzierungen:

  • der Kadergrößen,
  • der Zahl der anerkannten Bundesstützpunkte,
  • der Mittel für Trainer
  • der Stellen bei der Bundeswehr

und in anderen Bereichen zu rechnen ist.
Schon jetzt wirksam sind die Rückstufung in der Priorität bei der Förderung durch das IAT, an den Olympiastützpunkten und z.B. bei der Beantragung von Bundeszuschüssen für Baumassnahmen.

Dies ist die Beschreibung der Situation, die bei den Turnern drohte und bei den Turnerinnen bereits Gegenwart war, als ich im November 2000 das Amt des Vizepräsidenten für diesen Bereich übernahm.

Das Trampolinturnen macht derzeit im sportlichen Bereich weniger Probleme, die RSG ganz andere und bei den Turnerinnen werden aufgrund der schulischen Vorgaben individuelle Lösungen gesucht, weshalb ich diese Bereich im Augenblick aus den Betrachtungen ausklammere und mich auf die Kunstturner konzentriere, die die eigentlichen „Abstürzer“ der letzten Jahre sind.

Ganz bewusst habe ich nach meinem Amtsantritt auf  eine personenbezogene Vergangenheitsbewältigung verzichtet, einerseits, weil wirklich nicht alles falsch gemacht wurde und andererseits dies nicht weiter hilft. Aber wenn, dann hätten auch einige derer genannt werden müssen, die jetzt wieder mahnend, kritisierend und Rücktritte fordernd aus der zweiten oder dritten Reihe sich zu profilieren suchen, ansonsten aber eher bremsend und destruktiv wirksam sind und waren.

Mein Anliegen ist einzig dieses, alles zu unternehmen, um den endgültigen Absturz auch noch des männliche Kunstturnens zu verhindern.

Die Berechnungen, die zur Einstufung nach dem DSB-Förderkonzept herangezogen werden, sind zu kompliziert, um hier im Einzelnen beschrieben werden zu können, nur so viel: 
Für die Einstufung beim DSB werden ausschließlich die bei der WM vor den Olympischen Spielen und die nachfolgend bei den Spielen selbst erzielten Ergebnisse berücksichtigt.

Der 8. Platz der deutschen Mannschaft 1999 in China und 3 weitere Finalplätze an den Einzelgeräten, sowie der 10. Mannschaftsplatz und der 6. Platz von Marius Toba in Sydney reichten nicht einmal für die Stufe 3 aus.
Man kann also leicht schätzen, welche Ergebnisse bei  der WM 2003 und in Athen nötig sind, um wenigstens sicher die Gruppe 3 oder möglichst die Gruppe 2 zu erreichen, die seinerzeit (1997) Basis für die Festlegung unseres jetzigen Versorgungsstandes war und 2001 trotz nicht erbrachter Leistungen halbwegs erhalten werden konnte.
Nach dem Absturz bei der WM 2001 auf den 13.Platz konnten wir uns in diesem Jahr über die bei der EM zu verzeichnende Trendwende mit einer jungen Mannschaft freuen. Eine nüchterne, von diesem Ergebnis und seinem Zustandekommen abgeleitete, Analyse ergibt allerdings derzeit hochgerechnet einen bestenfalls 8. Mannschaftsplatz im Weltvergleich und keine ernsthafte Finalchance an einem Gerät. 
Die Entwicklung unserer in Patras sehr erfolgreichen Junioren verläuft positiv, sollte aber aufgrund ihrer Jugend, mit aller Zurückhaltung prognostiziert werden. Auch die Entwicklung der derzeitigen „Stammtruppe“ ist positiv, es fehlt ihr aber – wie die Monate nach Patras zeigten - die Dynamik, die notwendig wäre, um die in St. Anaheim und Athen gebrauchten spitzennahen Ergebnisse erhoffen zu lassen.

Da wir (noch) in der Lage sind, optimale Trainingsbedingungen zu organisieren, unsere Kandidaten einen sehr günstigen Altersschnitt aufweisen, die 10 Sportsoldaten über ein professionelles Zeitbudget verfügen und nach meiner Beurteilung wir einige darunter haben, die noch nicht Weltklasse sind, aber durchaus das Zeug dazu haben zu dieser aufzuschließen, sehe ich unverändert die Möglichkeit, uns in das Feld der Finalkandidaten hinter China einzuordnen. Voraussetzung dafür ist, dass wir dieses nicht nur wollen, sondern bereit sind, das dafür Nötige auch tun und zwar sofort.
Als das „Nötige“ befanden der Lenkungsstab, der Vorstand Olympischer Spitzensport und zustimmend zur Kenntnis nehmend auch das Präsidium:

  • Ein regelmäßiges gemeinsames Training der Sportsoldaten an zwei Standorten in Deutschland. Verbunden mit der versuchten Einbeziehung des Turners auf der Sportlerkostenstelle des VW-Werkes sowie des einzigen echten Studenten.
  • Ein Sonderprogramm für die zwei noch schulpflichtigen Athenkandidaten an ihren Heimatorten und dem OSP Frankfurt/ Main.
  • Die Konzentration des Einsatzes des Cheftrainers auf diese drei Orte.
  • Eine Optimierung des Mannschaftsbildungsprozesses durch ergänzende gemeinsame zentrale Maßnahmen.
  • Die Optimierung der Lernprozesse durch verstärkten Einsatz moderner Technologien über die spezialisierten OSP und das IAT.

Seit Anfang dieses Jahres wird dieses Konzept vorbereitet, es ist regelmäßig im Lenkungsstab (zu dessen Sitzungen der Aktivensprecher regelmäßig eingeladen wird) besprochen worden und allen Interessierten beim jeweiligen Sachstand erörtert worden.
Seit dieser Zeit laufen aber auch die Gegenmaßnahmen einiger, die persönliche oder örtliche Nachteile befürchteten ohne zu bedenken, dass ein nur geringer Leistungsanstieg nicht ausreicht, um den derzeitigen Förderstatus zu halten, sondern zu einem Absturz des „Gesamtsystems männliches Kunstturnen“ führen würde, der alle mit wegspülen wird, die irgendwie an diesem System hängen.

Die höhnischen Bemerkungen einiger Kommentatoren zu meiner Anmerkung - bei optimaler Vorbereitung sind alle, außer den Chinesen, direkte Konkurrenten unserer Mannschaft und zu schlagen - beweisen nur die weit verbreitete Trägheit des Denkens und Handelns, sowie das fehlende Vertrauen zur Leistungsfähigkeit unserer eigenen Turner, die man pikanter Weise ausgerechnet dem zurückgetretenen Cheftrainer zum Vorwurf gemacht hatte.
Die Gründe für die oben genannten Maßnahmen, die Ergebnisse der Vorbereitungen und die konkrete Aufforderung zur Beteiligung an diesem Programm sind vom Cheftrainer, dem Sportdirektor und mir als zuständigem Präsidiumsmitglied den Turnern und Trainern Ende August in Kienbaum zunächst gemeinsam vorgetragen und dann in Einzelgesprächen mit den Turnern und Trainern, bei denen ein vorrübergehender Aufenthaltswechsel notwendig war, oder die zusätzliche Informationen wünschten, erörtert worden.

Vier Turner verweigerten sich einer Zentralisierung total, bei allen waren dafür persönliche Gründe ausschlaggebend, einleuchtend waren diese nur bei dem Studenten Sebastian Faust.
Die Gespräche verliefen durchgehend in einer sachlichen, nicht aufgeregten Stimmung, keiner hat jemanden beschimpft oder beleidigt.
Es ist zutreffend, dass beim Abschlussgespräch - das ausschließlich mit den Trainern stattfand - insbesondere der Sportdirektor und ich auf die möglichen indirekten und direkten Folgen für jeden Einzelnen, den Stützpunkt und das gesamte Fachgebiete bei einer unbegründeten Verweigerungshaltung und den daraus zu erwartenden Folgen hingewiesen haben.
Dies zu unterlassen wäre eine Vernachlässigung der Fürsorgepflicht gewesen, die wir gegenüber allen denen haben, die zeitweise oder auf Dauer in und von diesem System leben.
Abschließend wurde den Trainern mitgeteilt, dass die Zentralisierung in Stuttgart unverzüglich eingeleitet wird, den noch unschlüssigen Turnern eine Bedenkzeit bis Ende September eingeräumt wird, bis dahin alle Statusfragen ruhen, wir aber jederzeit zu Gruppen- oder Einzelgesprächen bereit sind, jedoch das Gesamtkonzept nach Beschluss im Vorstand Olympischer Spitzensport in jedem Falle realisiert wird.

Als Verweigerer mit regelbarem Hintergrund verbleiben aus meiner Sicht nur drei Turner. Mir täte es sehr leid, wenn der Konflikt sich ausgerechnet am Widerstand der von mir persönlich sehr hoch geschätzten Gruppe aus Chemnitz festmachen würde und habe Hans Müller meine jederzeitige Gesprächsbereitschaft erklärt.
Wichtig ist, dass über allen Animositäten das Ziel des Wiedererstarkens unserer Sportart steht, und dieses emotional aber auch rational angegangen wird.

Eduard Friedrich
Vizepräsident Olympischer Spitzensport im DTB

>> Hinweis: 
Zur Klärung der momentanen Situation haben der Präsident des Deutschen Turner-Bundes Rainer Brechtken und der Sprecher der Landesturnverbände Rolf-Dieter Beinhoff die Präsidenten der Landesturnverbände zu einem INFORMATIONSGESPRÄCH nach Frankfurt/Main für den 24. September 2002 eingeladen.

23-Sep-2002: 
Direkte Antwort von 
Ex-Ringe-Weltmeister Andreas Aguilar  auf die obige Darstellung von Eduard Friedrich:

Wir alle sind besorgt über den dramatischen Leistungseinbruch unserer Nationalturner.
Wir alle sind der Meinung, dass dringend etwas unternommen werden muss - hier macht man es sich aber zu einfach!
Das Willam/Friedrich-Konzept sieht die Lösung einzig und allein in einer kurz- bis mittelfristig angelegten Zentralisierung.

Die Hauptargumente sind
1.)  Das "Aufeinanderhetzen" von Turnern fördert die Leistung  (wurde jetzt sprachlich aktualisiert: "Optimierung des Mannschaftsbildungsprozesses")

2.)  Optimierung der Lernprozesse durch verstärkten Einsatz moderner Technologien

Mit anderen Worten:
1.) Deutschland fällt international immer mehr ab,  weil die Turner sich keinem dauerhaften Druck aussetzen wollen und zu bequem sind ­ für den jetzt (un)wahrscheinlichen Erfolg ­ ihre gewohnte Lebensumgebung gegen eine WG einzutauschen.
2.) die Trainingsmethoden in den Heim-Stützpunkten sind altmodisch und inkompetent

Es ist überhaupt nicht so, dass sich die Turner gegen mehrmonatige gemeinsame WM-Lehrgänge wehren. Das hat es schon immer gegeben und das soll ja auch bleiben.
Welchen zusätzlichen Effekt soll ein Wohnungswechsel bringen?

Ein Zukunftskonzept, das sich nur darauf stützt, dass man die Turner einfach noch NOCH härter rannehmen muss, ist beschämend, unmoralisch und skandalös.
Dieses Motto: »wir bieten nichts, aber dafür verlangen wir alles« ist ein bisschen zu wenig, um wirklichen Erfolg zu haben. Auch die drohenden Mittelkürzungen sollten nicht als Rechtfertigung für diese Forderungen herhalten.
Ich glaube nicht, dass andere Nationen über bessere Turner verfügen. Ich bin aber überzeugt, dass sie bessere Konzepte haben!

Ein Sprichwort sagt: »Mitgefangen - mitgehangen«.
Schade, dass das so selten für Sport-Funktionäre gilt ...

Andreas Aguilar

 

  ... lesen Sie auch die "Stellungnahme der Athenkader" zur DTB-Position vom 23-Sep-2002

   ...lesen Sie dazu auch: "Dann haben alle anderen wohl gelogen...!" (G.Harms)
  ... und : OFFENER BRIEF  an den DTB-Präsidenten von Eckhard Herholz
    "Vom Teufelskreis, von aufgehaltenen Händen....der Verwaltung des permanenten 
      Notstandes...oder handeln Sie J E T Z T , Herr Präsident!"

... weitere aktuelle Reaktionen (22-Sep-2002):
OB verwundert über Trainer-Wechsel
Cottbus.
Mit großer Verwunderung reagiert die Cottbuser Oberbürgermeisterin Karin Rätzel auf die Nachricht, dass Turntrainer Gunter Schönherr die Stadt verlässt und zum KTV Stuttgart geht (die RUNDSCHAU berichtete). 
 "Wir sehen die Gefahr, dass der Standort Cottbus geschwächt wird " , erklärt Karin Rätzel
"Nicht in Ordnung ist auch, dass solche Entscheidungen an der Vereinsführung des SC Cottbus vorbei getroffen werden. Wenn der Deutsche Turnerbund beabsichtigt, seine Spitzenturner in Berlin und Stuttgart zu konzentrieren, dann würden wir als Cottbuser Stadtverwaltung auch gern informiert werden, um reagieren zu können. " 
Dessen ungeachtet werde die Stadt den Turner-Nachwuchs weiter intensiv fördern. "Daran ändert sich nichts. " 
Mit Schönherr wechseln auch die Spitzenturner Ronny
Ziesmer und Robert Juckel nach Schwaben. pm/rw
Quelle LR-online 21.09.02

Aktuelle Diskussion nach dem deutschen Turn-Desaster 
bei Olympia
2000,
nach der Turn-WM 2001 
sowie nach den "Konzentrationsversuchen" des DTB in der aktuellen Athenvorbereitung 2004
:

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