Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?
11-Okt-2004

"Aufstieg ....in den Keller"
- Zur Rückstufung des deutschen Männerturnens durch die DSB-"Förderung",
bekannt gegeben beim Bundestrainer-Großseminar in Leipzig, 4.-6.10.2004

- von Eckhard Herholz / GYMmedia

  KOMMENTAR


Eckhard Herholz

Scheinbar widersinnig, diese Abstufung in die letzte, die 4. Förderkategorie,
- hatte doch die "Hirschtruppe" in Athen für einen unerwarteten 8. Finalplatz gesorgt,
- standen doch zwei Turner im Mehrkampffinale und "Little Fabian" sensationeller Weise gar im Reckfinale.
Zudem ist gegenüber Sydney eine erhebliche Verjüngung der Spitze erfolgt. Hatte man in der Zeit nach Sydney nur einen A-Kader, sind es jetzt sechs, und 
Deutschlands Junioren befinden sich als Vize-Juniorenmeister in der kontinentalen Spitze, haben mit Fabian Hambüchen einen aktuellen dreifachen Junioren-Europameister...! 
Alles im "grünen Bereich"...? .... und dann nun diese Rückstufung in die letzte Fördergruppe...?!
 
"... das war nun wahrlich kein Aufgalopp für die WM 2007, das ist eher eine Fallgrube", beklagte sich dann auch DTB-Sportdirektor Wolfgang Willam resigniert.
Umsonst hatte er in Leipzig versucht, Ullrich Feldhoff in seinen Argumentationen zu widersprechen, der dagegen den DTB auf die künftigen Möglichkeiten zum Ausgleich nun fehlender Finanzen über den Weg von sog. "Projekten" verwies.
Auch Dr. Klaus Rost, der Verantwortliche für Nachwuchsleistungssport im IAT (Institut für Angewandte Trainingswissenschaft, Leipzig), hatte im Rahmen seiner Analysen über das Anschlusstraining bei o.g. Veranstaltung eindringlich auf die
Bedeutung gezielter


Wolfgang Willam

Förderung besonders in diesem Nachwuchsbereich hingewiesen....
Alles richtig, denn dieses sogenannte "DSB-Förderkonzept" wird tatsächlich schon längst nicht mehr seinem Namen gerecht...

DSB - "Förder"konzept - unzeitgemäß, aber...
Es fördert zu wenig, ja es stampft die "Zurückgebliebenen" scheinbar noch tiefer in die Asche.
Es ist dringlichst reformbedürftig!

Rechnet man z.B. im Turnen mal die Leistungen Griechenlands - selbst mit einem Weltmeister und einem Olympiasieger (!) - nach diesem Förderkonzept, dann wären die genauso wie die Turnnationen Weißrussland oder Frankreich in der "Kellerklasse 4". Schizophren....!
Wenn auch die DSB-Oberen meinen, man könne nun ab sofort finanzielle Defizite durch "Beantragung von Projekten" ausgleichen - damit ist es aber längst nicht getan.
Der Schaden, der mit solcherart unzeitgemäßem weil undifferenziertem DSB-Konzept entsteht - ablesbar am  Prozess der Rückentwicklung des gesamten deutschen Leistungssports - ist weit komplexer und nicht nur mit geringeren finanziellen Mitteln zu definieren.

Die weitaus schlimmeren Folgen..
...dieser Rückstufung nun auch des Kunstturnens der Männer bestehen vor allem im Statusverlust und Abwertung der Sportart in den Ländern, also  vor Ort, im Alltag. 
Fordere man doch dort als "Kellerkind" dringend notwendige Maßnahmen oder gar Investitionen  medizinischer, therapeutischer oder Laufbahnbetreuung oder gar den dringlichst erforderlichen Ausbau komplexer Leistungsdiagnostik...
....wenn es da nicht an der Basis weitsichtige Funktionäre gibt, dann entstehen in den Ländern irreversible Schäden in dieser komplexen olympischen Kernsportart, in der neben Leichtathletik und Schwimmen pro Athlet mit die größten Medaillenmöglichkeiten bestehen.
Will man wieder in den Turn- und Gymnastikdisziplinen zurück in die Weltspitze, muss man klug und langfristig investieren und nicht unsensibel und undifferenziert rückstufen!

Aber: Dies ist aber nur die eine Seite fehlender deutscher Turn-Medaillen - die quasi zentral verordnete!
Viel schlimmer steht's nach wie vor um die Ursachen, die zu dieser Abstufung führten, und die sind nicht neu - sie sind DTB-seitig hausgemacht


DTB -Verdammt zur Eigenleistung
Nun haben nach den Frauen auch die Rhythmische Sportgymnastik und auch das Männerturnen laut "Schulordnung" im Lande das Klassenziel nicht erreicht. Keine Überraschung, denn die Leistungskurve zeigte seit über einem Jahrzehnt und zunehmend steiler bergab.
Wie jedoch rappelt man sich als "Sitzenbleiber" wieder nach oben...? Mit Streicheleinheiten, mit Belohnungen für schlechte Leistungen....? Oder mit Unterstützung der Familie, Mutter, Vater, Geschwister... also durch Mobilisation des eigenen Umfeldes, letztlich von sich selbst..?!

Betreffs Turn-Entwicklung in Deutschland der letzten 15 Jahre übersehe man bitte nicht die Faktenlage:

  • Hier hat seit über einem Jahrzehnt ein Verband seine Hausaufgaben in Sachen Spitzensport nicht gemacht!
  • Hier sieht ein Verband durch nachweisbaren Abbau und Vernachlässigung seiner leistungssportlichen Strukturen dem Niedergang international relevanter Leistungen zu, ohne ausreichend selbst zu investieren!
  • Hier ist die Qualität der wissenschaftlichen, trainingsmethodischen, medizinischen und komplexen leistungsdiagnostischen Durchdringung des Spitzenbereiches in DTB-Verantwortung auf ein bedauernswertes Niveau gesunken, welches einem Aufwärtstrend in einer Hightech-Disziplin wie Gerätturnen geradezu diametral entgegen steht!
  • Hier gibt es eine unzureichende Anzahl wirklich nach leistungssportlichen Grundsätzen trainierenden Jugendlichen, wie die letzten Deutschen Jugendmeisterschaften in Celle gezeigt haben!
    (Die nach elitären Gesichtspunkten erfolgende Auswahl zu Juniorenhöhepunkten kaschiert diese Feststellung!)
  • Hier gibt es nicht mehr genügende und ungenügend motivierte und ausgebildete und am Weltspitzenstand der Sportart orientierte Trainer!
  • Hier fehlt es in Leitungsetagen an Kompetenz und konstruktiv und visionär handelnden Experten die tatsächlich das Sagen haben, wenn es um die Schaffung moderner, effizienter, spitzensportlicher Strukturen geht!
  • Hier ist die Eigenleistung zur Organisation eines internationalen Ansprüchen für Medaillenleistungen gerecht werdenden Top-Sports absolut unzureichend... man hält stets die Hände auf, statt in voller Absicht zuerst selbst zu investieren!

... und nun bleiben weitere Mittel aus, weil Mittelmäßigkeit nicht länger belohnt wird! 
Hat man das nicht zu allen Zeiten gewusst? (- siehe Beitrag Eduard Friedrich, Jan 2004)
Da mag mancher Experte aus der Ex-DDR wieder traurig an den steten Fluss der ehemaligen stattlichen Mittel denken, aber er sollte auch nicht vergessen, mit welcher Konsequenz dazumal die Medaillenleistung abgefordert wurde! 
(Überhaupt, dazumal, ...das ist heute überhaupt nicht mehr relevant, einzig nur die Effizienz:
Mit ungleich weniger Geld und Aufwand  pro errungener internationaler Goldmedaille als heute war das DDR-Sportsystem zu einem vielbewunderten Gebilde aufgestiegen - als helle leuchtende Säule aus einer grauen, den Ansprüchen der Menschen und der Zeit nicht mehr gerecht werdenden Gesellschaft. ... - allerdings ging es aus eben dieser Widersprüchlichkeit folgerichtig zu Grunde.)

Apropos, Effizienz...?

  • Wo und wofür wird  h e u t e  das Geld ausgegeben in einem 5-Millionenverband wie dem DTB?
  • Wie steht es dort mit "Effizienz" - wer hinterfragt sie?
  • Welche Rolle spielen olympische Strategien und Zielstellungen in den Köpfen der verantwortlichen Funktionäre tatsächlich?
  • Was ist dieser Riese DTB wirklich? Der "größte Volksbelustigungsverband der Welt" oder ein Verband für vorwiegend wettkampfsporttreibende Kinder, Jugendliche und Erwachsene...?
  • Sind Mitgliederentwicklung und Mitgliederzahlen (Quantitäten) alleinige "heilige Kühe" und in welchem Verhältnis stehen sie zur Qualität der komplexen Aufgabenstellung in einem Spitzenverband?
  • In diesem Verband mit seinen gewaltigen Potenzen steht eine derzeit "Leitbild-Diskussion" auf der Tagesordnung: Mit welcher Konsequenz kommt darin ein wieder international anerkannter Spitzensport vor?

Kluge Sprüche reichen längst nicht mehr


Brechtken

"Wenn der Deutsche Turner-Bund den Spitzensport nicht ins Zentrum seiner Strategie setzt, dann wird er künftig nicht mehr wahr, ja sogar nicht mehr ernst genommen!", diesen klugen und in allen seinen Teilen stimmigen Satz sagte vor drei Jahren (!) dessen Präsident Rainer Brechtken
Was hat sich jedoch seither geändert? Ob der Tatenlosigkeit in Sachen Elitesport erscheinen die Sprüche des Präsidenten eher als Schein einer "Nebelkerze". 

1997 noch in der komfortablen Fördergruppe 2 (- dank Weckers Olympiagold), über die Katastrophen der beiden letzten Olympiazyklen, über die Stationen WM Tianjin (1999), Sydney (2000), WM Gent (2001, 13. Platz) und WM Anaheim, 13. Platz) kann nun aber auch der unerwartet positive Auftritt der Athen-Mannschaft nicht darüber hinwegtäuschen, dass:
- auch ein achter Platz weit von einer Medaille weg ist!
- ein Fabian Hambüchen .. pardon .. eben mal gerade "nur" Siebenter im Reckfinale war , bei aller Wertschätzung für diesen Youngster persönlich und all seinen erfrischenden Auftritten - der hat aber Zukunft noch vor sich, die es erst noch abzusichern gilt!
Und überhaupt:

Es ist absolut nicht der Sportverband DTB der in erster Linie die sportliche Leistung dieses bewundernswerten Ausnahmeathleten hervorbrachte, sondern es ist der "Mikrokosmos" seiner Familie, seines Trainervaters Wolfgang und der durch ihn geschaffenen - weil oft vom DTB eben nicht zur Verfügung gestellten - Mittel und Bedingungen. 
Und komme man diesem Dreamteam mal mit einer Forderung nach "Konzentration", nach Umzug Fabians in irgendein Zentrum....spätestens da merkt man, dass dieses vielzitierte Lieblingsthema einiger hilfloser Funktionäre nicht die Lösung ist.
( - siehe GYMmedia-Meltung, 10.10.04)

In einer Zeit akuter Rückentwicklung eines leistungsorientierten, auf jeder Förderstufe an internationalen Zielen und Maßstäben ausgerichteten Gerätturnens ist es wichtiger, eine nach strategischen Programmen handelnde optimale Anzahl von Leistungszentren zu halten und auszubauen.


Mikrokosmos Hambüchen

Lehrgangstätigkeit und Konzentration von Kaderkreisen zu bestimmten Zeitpunkten und im Rotationsprinzip machen nur dann Sinn, wenn der infrastrukturelle Unterbau stimmt! Um den geht es in erster Linie - und genau der ist in Gefahr:
Turnzentren schließen reihenweise, ehemalige Leistungszentren haben keine Kader mehr anzubieten, Trainerentlassungen und Planstellenverluste sind überall auf der Tagesordnung. Im Ausland werden allerorten Spitzencoaches gesucht und eingestellt - Deutschland beliefert sie.

Mehr Eigenleistung ist gefragt
Tunlichst sollte man also die DSB-Verweise, dass die mit der Rückstufung nunmehr weniger zur Verfügung stehenden Mittel, mit Beantragung für entsprechende Konzepte künftig "abzufordern" und auszugleichen sind, ernst nehmen. Mag man dabei auch über zunehmende Bürokratie klagen, der scheinbare Widerspruch "bist'e schlecht - kriegst'e weniger - bleibst'e unten" einer tatsächlich unzeitgemäßen DSB-Förderstrategie kann also nur als Aufforderung verstanden werden, als Sportart und -verband mehr in seine Elitenförderung und -strukturen zu investieren, also diesem Negativtrend selbstverantwortlich entgegenzusteuern, und nicht bloß um Hilfe zu rufen oder um ausbleibende Mittel zu klagen.
Und zum wiederholten Male hat dazu ein Verbandstag als das höchste Gremium des DTB eine Chance zu einer Weichenstellung (November 2004).
Wieder einmal könnte die Finanzierung des Spitzensports durch Eigenfinanzierung der Basis mit Konsequenz eingefordert werden:
Nach wie vor gehört dazu die nicht neue Forderung 1 Euro pro Mitglied und Jahr ( - das wären 0,083 Cent pro Mitglied und Monat!) endlich auf die Tagesordnung!!
Ansonsten wird der wehklagende und händeaufhaltende 5-Millionen-Verband DTB von außen nur noch bedauert und international sowieso nur noch belächelt werden können. 

Ob man nun endlich und tatsächlich zu solcherart Einsichten einer erstrangig "familiären Förderung des Sitzenbleibers" kommt, bleibt anzuwarten. Den hoffnungsvollen Junioren and allen Turn-Talenten dieses Landes wäre es nur zu wünschen.
Eckhard Herholz

> ... lesen Sie zu dieser Problematik "DSB-Förderung" auch den Beitrag von E. FRIEDRICH
         vom 19. Oktober 2004: "Optimierung des Trainings ist das Gebot"

Aktuelle Diskussion nach dem deutschen Turn-Desaster 
seit
Olympia 2000,
nach den Turn-WM 2001 /02 / 03
den "Konzentrationsversuchen" des DTB  und nach
Athen 2004:

Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?

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