Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?
28-Jan-2004

Die DTB-Sportarten des Olympischen Programms im Spiegel des DSB – Förderkonzeptes.

- von Eduard Friedrich

   

Sieben Monate vor den Olympischen Spielen 2004 in Athen hat sich der langjährige Spitzensportverantwortliche Eduard Friedrich mit den Prinzipien des Förderkonzeptes befasst und auf die Chancen und Möglichkeiten der drei olympischen Disziplinen Gerätturnen (Männer + Frauen), Trampolinturnen und Rhythmische Sportgymnastik bezogen.

Friedrich ist derzeit nach seinem beruflichen Ausscheiden aus dem Amt des Olympiastützpunktleiters Rostock und nach dem Rücktritt als DTB-Vize-Präsident für Spitzensport 2002 Präsident des Turnverbandes Mecklenburg-Vorpommern.

Grundsätze des DSB-Förderkonzeptes
Der Deutsche Sport erhebt auf der Basis seiner geschichtlichen Rolle im olympischen Sport, seiner wirtschaftlichen Kraft und seiner gegebenen sportlichen Infrastruktur den Anspruch, weltweit im olympischen Kräftemessen neben den USA und Russland die dritte Kraft sein zu wollen.

Dies ist im „Nationalen Spitzensportkonzept“ (NSK) festgeschrieben worden und in wiederholten Erklärungen führender Repräsentanten der verschiedenen Dachorganisationen des Sports und der wichtigsten Förderinstitutionen bekräftigt worden.

Nicht ganz so eindeutig ist die Ermittlung dieses Rangplatzes geregelt.
In den Medien sind Medaillen – Tabellen mit der Priorität Gold vor Silber vor Bronze üblich, in Kommentaren zum NSK ist von der Summe aller Medaillen zu lesen, in der Deutschland den mindestens 3. Listenplatz erzielen möchte, der bei den letzten Winterspielen regelmäßig erreicht wurde, bei den Sommerspielen der letzten Jahre aber keineswegs.

 

Erfolgsberechnung

Für die Sportverbände und ihre Sportartengruppen ist aber die Berechnung nach dem DSB-Förderkonzept von entscheidender Bedeutung, da diese die Grundlage für die Bezuschussung mit Fördermitteln der öffentlichen Hände in den verschiedensten Formen bildet, und diese sieht wie folgt aus.

Die Berechnungsgruppen

Die Berechnung erfolgt nicht grundsätzlich bezogen auf den gesamten Verband, sondern auf Sportarten oder Disziplingruppen, die in sich inhaltlich und strukturell möglichst homogen sein sollen und im NSK festgeschrieben sind.

Für den "Deutscher Turner-Bund" sind dies die olympisch ausgetragenen Disziplinen im:

Kunstturnen (Gerätturnen) der Männer;
Mannschaftswertung,
Einzel-Mehrkampf, die Geräte, Boden, Pferd, Ringe, Sprung, Barren und Reck.

Kunstturnen (Gerätturnen) der Frauen;
Mannschaftswertung,
Einzel-Mehrkampf; die Geräte, Sprung, Barren, Balken, Boden.

Trampolinturnen Frauen und Männer; Großtuch Frauen, Großtuch Männer

Rhythmische Sportgymnastik; Einzel-Mehrkampf,, Gruppe-Mehrkampf

Bewertete Wettkämpfe

Zur Bewertung für die Einstufung der Sportartengruppen werden ausschließlich die Weltmeisterschaften im vorolympischen Jahr (mit dem Faktor 1,0), sowie die Olympischen Spiele danach (mit dem Faktor 1,5 multipliziert) herangezogen.

Der Berechnungsmodus

Für jede Platzierung bis Platz 10 werden Punkte nach folgendem Schlüssel vergeben:

Platz

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

Punkte

16

14

13

9

8

7

4

3

2

1

  Dies gilt für die vorolympischen Weltmeisterschaften, bei den danach folgenden Olympischen Spielen werden die Punktzahlen mit 1,5 multipliziert, woraus sich folgendes Bild ergibt:

Platz

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

Punkte

24

21

19,5

13,5

12

10,5

6

4,5

3

1,5

 

Für die weitere Berechnung werden die erreichten Punkte in jedem der beiden Wettbewerbe in prozentualen Bezug zu den jeweils theoretisch erreichbaren gesetzt. Die in Prozent ausgedrückten Teilergebnisse werden addiert und durch 2 geteilt. Das so erreichte Mittel ist dann die Grundlage für eine Rangliste, in die alle der rund 70 Sportartengruppen der Sommerspiele eingeordnet werden.

  Erst nach den olympischen Spielen legt dann der Vorstand des „Bereich Leistungssport im DSB“ fest, wo die Grenzen für die Einordnung in die Fördergruppen 1 bis 4 festgesetzt werden. Dieses Verfahren ist notwendig, da der Umfang der aus öffentlichen Händen zur Verfügung stehenden, begrenzten Mittel berücksichtigt werden muss.

Der DSB kann weitere Nebenkriterien in geringfügigem Umfang berücksichtigen – muss dies aber nicht.

  Zwischenberechnung am Beispiel der DTB – Sportarten

  Kunstturnen Männer:

Disziplin

Erreichbare Pu WM

In Anaheim erreicht

Erreichbare Pu OS

..in Athen erreicht *

Mannschaft

16

0

24

4,5

Einzel-Mehrkampf

30

0

45

0.0

Geräte

180

0

270

6,0

Summe

226

0 = 0%

339

10,5 = 3,1 %

  Die Rechnung nach Athen wird also folgendes Bild haben:
= % aus Anaheim + ? % der 339 möglichen aus Athen geteilt durch Zwei.
Als Endergebnis theoretisch noch erreichbar sind 50% (Bei Gewinn aller Gold- bzw. Silbermedaillen in allen Disziplinen.

Kunstturnen Frauen:

Disziplin

Erreichbare Pu WM

In Anaheim erreicht

Erreichbare Pu OS

..in Athen erreicht *

Mannschaft

16

0

24

0

Einzel-Mehrkampf

30

0

45

0

Geräte

120

0

180

0

Summe

166

0 = 0%

249

0 Pu = 0 %

  Die Mannschaftspunkte sind nicht mehr erreichbar, so sind maximal noch 225 Punkte, also etwa 90 % der 249 Athenpunkte realisierbar. Einzelheiten siehe Männer.

  Trampolinturnen:

Disziplin

Erreichbare Pu WM

In Hannover erreicht

Erreichbare Pu OS

..in Athen erreicht *

Einzel Frauen

30

16

45

24,0

Einzel-Männer

30

13

45

19,5

Summe

60

29 = 48,3 %

90

43,5 = 48,3 %

 

Da die jeweils zweiten Starter des DTB sich in Hannover nicht für Athen qualifizieren konnten, sind bei den Olympischen Spielen nicht mehr 90 sondern nur 48 Punkte was 53,3 % entspricht, erreichbar.
Immerhin sind damit noch mehr als 50 Prozentpunkte erreichbar und über 40 durchaus realistisch.  

Rhythmische Sportgymnastik:

Disziplin

Erreichbare Pu WM

In Budapest erreicht

Erreichbare Pu OS

...in Athen erreicht *

Einzel Mehrkampf

30

0

45

0

Gruppe Mehrkampf

16

0

24

0

Summe

46

0 = 0

69

0 = 0 %

Die eine qualifizierte Einzelgymnastin kann theoretisch mit einer Goldmedaille noch 24 Punkte = 34,8 % erreichen. Selbst mit dieser Goldmedaille würde es also nur zu einem Endergebnis von 17,4 Prozentpunkten reichen.

  Die ernüchternde Bilanz nach den Weltmeisterschaften des Jahres 2003 ist:
Die Trampolinturner haben gute Aussichten, mindestens die Förderstufe 2 zu erreichen, für alle anderen DTB-Sportarten muss festgehalten werden, dass bei der derzeitigen Ausgangsposition es schon schwer wird, die vorletzte Förderstufe 3 zu erreichen.
Zur Erinnerung an die vorherige Olympiade und zum Vergleich der seinerzeit erreichten Ergebnisse folgende Übersicht:  

Sportart

WM 99 in %

Oly Sp in %

Gesamt in %

Förderstufe

Kunstturner

11,06

3,54

8,19

3 - 4

Kunstturnerinnen

0

0

0

4

Trampolinturnen

50

15,63

36,72

2

Rhyth. Sportgym.

17,39

29,35

23,37

3

  Nach den Olympischen Spielen von Sydney wurden die Kunstturner, die in das Ergebnis immerhin einen Weltmeister einbringen konnten, zwar nur in den Zwischenbereich 3 bis 4 eingeordnet, aber aufgrund vorhergehender Erfolge in den 90er Jahren und relativ guter Nachwuchsergebnisse, de facto wie zur Stufe 2 gehörig behandelt.

  Die Turnerinnen dagegen bekamen die Kürzungen der Förderung bereits deutlich zu spüren.

Trampolinturnen erreichte zwar die Stufe 2, aber das im Vergleich zu den Weltmeisterschaften 1999 enttäuschende Abschneiden bei den Olympischen Spielen sowie andere Nebenfaktoren waren möglicherweise Gründe dafür, dass die Förderung sich nicht in dem Umfang verbesserte wie dies erhofft wurde. Außerdem  ist zu beachten, dass aus diesen Mitteln auch der nicht unerhebliche nichtolympische Bereich des Trampolinturnens im DTB zu versorgen war.

Die Rhythmische Sportgymnastik erreichte trotz des 4. Platzes der Gruppe die Stufe 2 nicht, da die Einzelgymnastinnen trotz guter Platzierungen (12. und 15.) nicht punkten konnten. Die BMI –Förderung konnte im wesentlichen gehalten werden.

Zusammenfassend kann konstatiert werden,
dass nach Sydney die olympischen DTB-Sportarten – außer den Turnerinnen – vom DSB unter dem Aspekt der am Förderkonzept orientierten Mittelzuweisung recht großzügig behandelt wurden.

 Was erwartet uns nach Athen?  
  (  )* - ...
Ergebnisse von Athen wurden nach Ende der Olympischen Wettbewerbe eingefügt. s.o.  -die Red)

Die zu erwartenden Förderstufen
Es ist immer wieder daran zu erinnern, dass mit den Ergebnissen der Weltmeisterschaften schon eine wesentliche Vorentscheidung gefallen ist.
Aus vielen Äußerungen, auch solchen von DTB-Verantwortlichen, konnte man den Eindruck ableiten, die besondere Bedeutung der vorolympischen Weltmeisterschaften läge ausschließlich in der Qualifikation für Olympia. Somit wären z.B. mit dem 12.Platz der Männermannschaft alle Chancen auf eine gute Einstufung nach dem Förderkonzept gewahrt.
Leider ist dies keineswegs der Fall, wie ein Blick auf die oben dargestellten Berechnungsvorgänge deutlich macht.

Emotionslos muss man feststellen:
Realistisch betrachtet haben die Gymnastinnen und die Turnerinnen keine Chance mehr sich in die Stufe 3 hinein zu punkten.
Gleiches gilt rechnerisch auch für die Männer. Um in Athen 20 Prozentpunkte zu erreichen, die – verrechnet mit den 0 Punkten von Anaheim - für die Stufe 3 etwa notwendig sein werden, müssten ca. 70 Punkte erreicht werden, das entspricht etwa 3 Medaillen oder mindestens 7 Finalplatzierungen.

Recht gut sieht es für das Trampolinturnen aus, schon mit zwei Finalplätzen wäre die Stufe 2 gesichert, mit etwas Glück ist auch die Stufe 1 möglich.
Dies zum rechnerischen Teil. Bei außergewöhnlich guten Olympischen Ergebnissen kann sicher auch mit dem BL des DSB über eine Sondereinstufung verhandelt werden, aber diese müssen außergewöhnlich gut sein und erst mal eintreten.

 Was bedeuten die Stufen für die öffentliche Förderung der olympischen DTB-Sportarten?

Das Trampolinturnen kann davon ausgehen, dass es seinen jetzigen Status mindestens erhalten, möglicherweise sogar verbessern kann. Dies gilt grundsätzlich aber nur für die Einzeldisziplin auf dem großen Tuch. Die Abstimmung zu den anderen – nichtolympischen -  Disziplinen ist ein verbandsinternes Problem.

Die drei anderen Bereiche sind gut beraten, sich auf die Bedingungen der Förderstufe 4 einzurichten, und da ist im DSB – Konzept auf Seite 14 zu lesen, was mit Bundesmitteln noch möglich sein wird und vor allem was nicht:

  • Pauschale Mittelzuweisung für Wettkampf- und Trainingsmaßnahmen mit dem Schwerpunkt Nachwuchs,

  • Grundsätzlich keine Finanzierung von Auslandslehrgängen bzw. eines systematischen Lehrgangsprogramms,

  • Förderung von Einzelathleten bzw. Athleten-/Altersgruppen unter dem Aspekt einer systematischen Lehrgangsarbeit (ist) möglich,

  • Kein Anspruch auf hauptamtliche Trainerstellen im Spitzenbereich,

  • Projektbezogene Schwerpunktbetreuung im OSP-System  möglich,

  •  Anträge für wissenschaftliche Einzelprojekte möglich.

Was dies bedeutet, haben wir bei den Turnerinnen in den letzten Jahren bereits erleben können:

  • Zentrale Schulungen waren nur noch sehr begrenzt finanzierbar.

  • Die Zahl der anerkannten Bundesstützpunkte reduzierte sich auf noch 3.

  • Für die Besoldung von Trainern stand ein erheblich reduzierter Pauschalbetrag zur Verfügung. Es war dann Sache des DTB, wie er damit seine arbeitsrechtlichen oder vertraglichen Verpflichtungen regelte. Ergebnisse waren u.a. „Teamchefin“ auf Honorarbasis, keine hauptamtliche Kraft für den Nachwuchsbereich auf Bundesebene.

  • Die Betreuung an den OSP erfolgte nach niedriger Priorität und war stark abhängig von der spezifischen örtlichen Situation.

  • Eine wissenschaftliche Begleitung des Trainings war nur über persönliche Initiativen und auf  Umwegen möglich. Am IAT Leipzig wurde die Abteilung Turnen praktisch aufgelöst.

Was nicht auf der Liste der Grausamkeiten steht, aber unmittelbare Folge ist:

  • Eine Reduzierung der Kadergrößen wurde schon bisher angestrebt und wird dann mit Sicherheit verwirklicht,

  • Dies führt auch zur Reduzierung der Zahl der Bundesstützpunkte, und diese zieht wiederum eine Reduzierung der mischfinanzierten OSP-Trainer nach sich.

  • Eine Reduzierung der dem Verband zur Verfügung stehenden Plätze in den Fördergruppen der Bundeswehr ist eine weitere zwangsläufige Folge.

  • Die Verringerung der Kadergrößen bringt zwangsläufig auch eine Verringerung der Zahl der von der Deutschen Sporthilfe geförderten Sportler mit sich,

...weiterhin:

  • Inzwischen sind fast alle Fördersysteme der Bundesländer am Bundeskonzept angelehnt. Dies bedeutet das in die Bewertung - auch auf Landesebene – ein Faktor eingeht, der die Wertigkeit der Sportart nach dem Förderkonzept des Bundes beinhaltet. So wird eine hohe Einstufung in der Landesförderung selbst bei hervorragendem nationalen Abschneiden immer schwerer. Die sich daraus ergebenden Folgen (Streichung von Landestrainerstellen, Landesleistungszentren u.s.w.) können auf Dauer weit schlimmere Folgen nach sich ziehen,  als bestimmte Einschränkungen auf Bundesebene.

  • Die Folgen, die ein schwaches Abschneiden der Nationalmannschaften für die private und kommunale Förderung, die Präsenz in den Medien und die Sympathie bei Politik und Wirtschaft nach sich ziehen, können hier nur angedeutet werden.

Man kann hoffen, dass nicht alles so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde, um einen volkstümlichen Vergleich zu verwenden, aber die konkurrierenden Verbände setzen Lobbyarbeit enge Grenzen und das Ansehen des DTB ist im Leistungssport ohnehin nicht hoch.

Fazit
Der olympische Sport des DTB hatte im letzten Jahrzehnt nach der Vereinigung zumindest im Kunstturnen eine hervorragende Ausgangsposition und hervorragende Bedingungen, sowohl sportlich, als auch strukturell und in den wichtigsten flankierenden Bereichen.
Außer im Trampolinturnen ist inzwischen zumindest die sportliche Stellung verspielt und die anderen Bedingungen sind akut gefährdet.

Damit nicht auch der Rest noch verloren geht ist die Frage nach den Schuldigen nur in sofern von Bedeutung, als man ihrer Verantwortung die Sanierung nicht überlassen sollte.

Eduard Friedrich,
Präsident des Turnverbandes Mecklenburg-Vorpommern,
Ehemaliger Vizepräsident Spitzensport des DTB

>> Nach den Olympischen Spielen ist eine Endabrechnung gemäß des DSB Förderkonzepts möglich

(c) gymmedia
- update: 30-Aug-2004

Aktuelle Diskussion nach dem deutschen Turn-Desaster 
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