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Florian
Schmid-Sorg fragte: |
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Früher
gab es ja nur im Kunstturnen Landesmeisterschaften, seit einigen Jahren (Jahrzehnten?) ja
auch im Allgemeinen Gerätturnen, doch seit wann, und wie kam es dazu? Und weshalb gibt es
dort keine Deutschen Meisterschaften? Diese Fragen beziehen sich in erster Linie auf das
A-Programm (Pflichtübungen); dennoch würde ich gern etwas über das B-Programm erfahren? |
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Dazu
Ilona Gerling - Bundesfachwartin Gerätturnen im DTB:
Um Deine Frage zu beantworten muss ich vorab etwas erklären: In den letzen 10 Jahren -
nach der Zusammenführung auch der alten und neuen Bundesländer war der Deutsche
Turner-Bund u.a. in zwei "Arbeitsbereiche" = Verbandsbereiche unterteilt: Der
Bereich Sport kümmerte sich um die Sportarten, die internationale Meisterschaften u.ä.
hatten, dazu gehören das Kunstturnen mit seinen Deutschen Meisterschaften und
internationalen Wettkämpfen und auch die Bundesliga.
Im Verbandbereich "Allgemeines Turnen" waren die Interessen des Freizeit-,
Gesundheits- und Breitensport zu vertreten; hierzu gehört auch der Bereich
Gerätturnen für alle anderen, die nicht zu den Talentfördergruppen gehören
und/oder/bzw. Kaderzugehörigkeiten besitzen. |
Ich gehöre
als amtierende Bundesfachwartin Gerätturnen (für alle Männer/Frauen/
Jugendliche/Kinder des Gerätturnens) diesem zweiten Verbandsbereich an.
Seit Jahren ist es mein Wunsch, "Meisterschaften" anzubieten, auch für die
(zeitlich) weniger Trainierenden, die sich aber ebenfalls mit persönlich sehr guten
Leistungen über verschiedene Qualifikationsebenen als die Besten ihres Bereiches
qualifiziert haben.
1993 hatte ich in Duisburg erstmals zu einer Länderkonferenz zur Entwicklung des
Wettkampfwesens und Einrichtung von attraktiven Wettkämpfen für die A- und
B-Wettkampfformen eingeladen. Nach langen Diskussionen hatten sich ALLE
Länderverteter des Gerätturnens der Landesturnverbände in einer Abstimmung dafür
ausgesprochen, "Meisterschaften" auch für A-Wettkämpfe (im
Schüler/innenbereich) und B-Wettkämpfe in den Ländern einzuführen. Es ist nun mal
Fakt, dass jede regionale und jede Stadtzeitung vor allem dann über Wettkämpfe und
Sieger/innen berichtet, damit auch die Turn-Vereine in die Zeitungen bringt, wenn es um
Meisterschaften geht. Es ist ebenso Fakt, dass nur bei Meisterschaften Gelder bereit-,
oder ein Bus zur Verfügung gestellt werden....! Fakt ist auch, dass nur jene
"Sportler des Jahres" in einer Stadt/Kommune ausgezeichet werden, die über
eine ausgeschriebene "Meisterschaft" ihren Titel erhalten haben. Ich kenne viele
Fälle, wo aus hunderten von Teilnehmer/innen sich über Vereins-, Kreis-/Gauebene,
Bezirksebene schließlich eine - z.B. in der B7 - als Siegerin auf dem Treppchen
einer Landesmeisterschaft befand ... und es zählte dann in der Öffentlichkeit nicht,
weil es eben keine "Meisterschaft" war.
In den neuen Bundesländern
gab es meines Wissens aber eine parallele Meisterschaft sowohl im
"Allgemeinen Gerätturnern", als auch im Spitzenbereich, meines Wissens
bspw. in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Leider scheiterte dieser Anlauf in den meisten
Landesturnverbänden auch an dem Widerstand der "Kunstturner", die in
ihren Landesturnverbänden nur eine Deutsche Meisterschaft des Kunstturnens dulden,
"um nicht die Presse zu verwirren", so das Hauptargument. Wie ich zu meiner
Bestürzung beobachtete, ignorierte die Presse (z.B. Kölner Stadtanzeiger) selbst eine
Europameisterschaft im eigenen Land fast völlig, so ist diesem Argument kaum zu folgen.
Vielmehr geht es um das Gerätturnen ansich und als Ganzes, und das sollte so oft als nur
irgend möglich in die Presse kommen; denn auch die regionale Berichterstattung, ist für
das Gerätturnen von immenser Bedeutung! Das bringt uns auch den Nachwuchs in die Vereine,
macht Turnvereine und deren breiteste Angebote bekannt, unter dem Motto "...
ach, von dem Verein habe ich viel gelesen, da passiert was, die leisten gute Arbeit, da
muss ich meine Tochter mal anmelden...".
Aus welchem Grund also dulden die "Kunstturner" keine weitere Meisterschaft
neben der ihrigen, die zur Qualifikation einer Deutschen Meisterschaft Kunstturnen
führt....?
Wir (- der Bundesfachausschuss Gerätturnen) wollten
versuchen, wegbereitend auf nationaler Ebene für unsere Leistungsstärksten -die
Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren und älter - eine deutsche Meisterschaft des
"Allgemeinen Gerätturnens" mit der B10 einzurichten!
So gab es im Sommer 1997 ein intensives Gespräch mit dem Vorsitzenden des Technischen
Kommitees Männer Eberhard Gienger, der Vorsitzende des Technischen Kommitees Frauen Ulla
Koch und dem Bundeskampfricherwart männlich Sigfried Funk: Sie vertraten damals den
Standpunkt, dass es keine "konkurierenden Meisterschaften" zu der ihren geben
sollte. Viele wichtigen Dinge wurden uns für unser allgemeines Gerätturnen seitens des
Kunstturnens zugesprochen - mit dem Preis und dem Zusichern, dass wir für das allgemeine
Turnen keine "Deutschen Meisterschaften" ausrichten. Wir haben seit dem auf
Bundesebene das "Bundesfinale Einzel B10" mit Qualifikationspflicht auf
Landeseben und Gleiches für die Vereinsmannschaften mit großem Erfolg bis zu diesem Jahr
durchgeführt. Fast alle Landesturnverbände (wir haben an die 20) hatten ihre
qualifizierten Turner/innen geschickt - nur 7 Landesturnverbände braucht man
normalerweise -laut Turnordnung- als Voraussetzung, um Deutsche Meisterschaften
durchführen zu können! Der Bedarf ist also eindeutig da!
Jeder Landesturnverband
besitzt das Recht "Herr seiner Reusen" zu sein, so haben trotz
alledem einige Landesturnverbände - mit viel Erfolg und hohem Motivationszuspruch der
Teilnehmer und einem enormen Anstieg an Mannschaften und Einzelturner/innen - ihre
Vereins-, Gau-, Kreis-, Bezirks und auch Landesmeisterschaften, für den Schülerbereich
im A-Wettkampf, für die Jugendlichen im B-Wettkampfbereich. Es dauert m.E. noch
etwas, bis es in allen Köpfen drin ist, das es um die Existenz unseres Gerätturnens geht
und nicht um Prestigehabe.
Ein großer Erfolg ist uns aber jetzt doch gelungen:
Dieses Jahr finden erstmals "Deutsche Meisterschaften
der Senioren" im Oktober in Leipzig statt!
Diese konkurieren nämlich - altersbedingt - gar nicht mit dem "Kunstturnen".
Um den Bedarf nachzuweisen, hatten wir als "Pilotprojekt" 1999 einen
"DTB-Bundeswettkampf der Senioren" in Markkleeberg durchgeführt - und 250
ältere Turner kamen !!! Unterschriften wurden für eine deutsche Meisterschaft gesammelt,
und nun gibt es sie also, die Premiere in diesem Jahr! Es war auch nicht zu verstanden,
warum es für die Leichtathleten der Senioren selbst Weltmeisterschaften gibt, nicht aber
für unsere Turn-Senioren. Auf jedem Landes- und Deutschen Turnfest kann man die
Leistungsfähigkeit dieser älteren Turner bewundern! Die sehen ein Vielfaches besser aus,
als so manche Marathonläufer auf den letzten Kilometern ... dort stürzt sich die Presse
auch nicht auf die Älteren mit abfälligen Bemerkungen, sondern schreibt mit Bewunderung
über deren Leistungsfähigkeit und Motivation, obwohl auch ihnen die körperliche
Anstrengung anzusehen ist!
Mit dem Deutschen Turntag
verändert sich die Struktur des Deutschen Turner-Bundes.
Dabei werden die Bereiche "Kunstturnen" und Gerätturnen zu einem Technischen
Komitee (TK) im Verbandsbereich "Sportartenentwicklung" zusammengefasst, das
sich als politisches Gremium mit einer Gesamtverantwortung für alle Belange des
Gerätturnens versteht, d.h. Weichen stellt, die Zukunft des Gerätturnens plant und
steuert. Die Sportart Gerätturnen soll die Gesamtentwicklung einer Sportart, in der
gesamten Breite und Vielfalt vom Breiten- und Freizeitsport bis zum Hochleistungssport aus
einem Guss gestalten. Ab jetzt gibt es laut Satzung und Turnordnung nur noch den Begriff
"Gerätturnen" für die große Familie - wie in der damaligen DDR übrigens
auch. (Anm.: - dort unterschied man damals die Begriffe Turnen- Gerätturnen-
Leistungsgerätturnen und beschrieb damit den allgemeine Breitensport, den
leistungsorientierten Wettkampfsport bis hin zum Hochleistungssport der Nationalkader. die
Red. ) Der Bereich der Kaderbetreuung und damit auch die Talentförderung, die
Betreuung der Nationalmannschaft geschieht in einem gesonderten Verbandsbereich
(Olympische Sportarten) in Lenkungsstäben. Deutsche Meisterschaften, Bundesliga und
Bundesfinale Einzel und Mannschaft... Männer, Frauen, Jugendliche und Kinder, alles ist
in Zukunft von einem Technischen Komitee zu steuern und lenken.
Wünschen wir dem neuen
Technischen Komitte ein gutes Händchen für unser Gerätturnen!
Die Zukunft bleibt spannend. Warum soll es nicht neben einer breiten Amateurklasse vieler
Turnenden an den Geräten neben den Profis der Nationalmannschaft, in den
Hochleistungzentren und der ersten Bundesliga geben! Das schärft den Blick fürs Ganze!
Alle sind aufgerufen, sich aktiv für die Zukunft unseres Gerätturnens einzusetzen,
jede/r auf seine Weise mit seinen/ihren Möglichkeiten und Mittel, für seinen/ihren
Bereich.
Mit turnerischen Grüßen und alles Gute!
Ilona Gerling / Bundesfachwartin Gerätturnen im DTB
Lesen Sie dazu auch:
- "Strukturvorschlag
Alters-/Leistungsklassen im Gerätturnen" ( - von Falk Naundorf)
- "Gedanken zu
Problemen des Gerätturnens als Wettkampfsport"
(- von Thomas Albrecht).
Im Turnmagazin LEON* 4/2000 erscheint Mitte August eine
Turn-Bilanz der letzten 10 Jahre: "One and One is One...?"
Wir
veröffentlichen gern weitere Wortmeldungen und Meinungen zu diesen oder ähnlichen
Problemen, unter dem Motto...: |
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"Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?" |
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