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1)
Es gibt keine vergleichbare Sportart, die es
sich erlaubt, regelmäßig alle vier Jahre und teilweise auch noch
dazwischen die WV zu ändern - und das seit ca. 40 Jahren!
Unsere Sportart ist technisch-kompositorisch, vielfältig und aufwendig
genug, als dass sie durch die WV noch mehr verkompliziert werden müsste.
Die deshalb fehlende Kontinuität hat vielerlei Folgen:
- Ständige (aufwendige)
Kampfrichterprüfungen, Umdenken und –handeln bei Turnern und
Trainern,
- Verunsicherung und Unverständnis bei Journalisten und Publikum, usw.
Hinzu kommt, dass die WV sich im Laufe der Zeit zu einem unvollkommenen
Regelwerk entwickelt haben. Die WV sind der Sportart nicht gerecht
geworden, sie sind der Entwicklung ständig hinterhergelaufen. Insofern
waren die jeweiligen Änderungen hinsichtlich (vornehmlich)
Schwierigkeitstabelle, Ausgangswert und Bonifikation nur halbherzige
Anpassungen für den Augenblick, also Flickschusterei.
Da sich die Änderungen nur immer an der Weltspitze orientierten,
ergaben sich für die unteren Bereiche verheerende Folgen:
Turner und Interessenten, Mitstreiter und Idealisten, Öffentlichkeit
und Medien wendeten sich ab.
Aber damit noch nicht genug. Um das Maß voll zu machen, wurde auch das
Wettkampfsystem und der Wettkampfkalender in der Vergangenheit einer
oftmaligen Änderung unterzogen. Es kam teilweise zu einer Wettkampfflut
mit entsprechender fehlender Kontinuität und Überschaubarkeit.
2)
Eine Sportart, deren Leistungen subjektiv beurteilt werden, kommt oft in
den Geruch, dass es nicht immer mit rechten Dingen zugeht.
Aus der Vergangenheit sind uns die Riesenskandale, wo es um Fehlurteile,
teilweise Manipulation und Betrug ging, noch geläufig.
Dass zu häufig nicht der wahre Sieger die Goldmedaille bekommt, damit
scheint man sich mit Bedauern abgefunden zu haben. Die letzte Möglichkeit
einer Begründung Tatsachenentscheidung kann man hier nicht geltend
machen, damit macht man es sich zu leicht.
Auch zuletzt bei der WM in Gent waren wohl nicht immer die Richtigen auf
dem oberen Podest, was auch wie alle anderen Vorgänge der Vergangenheit
der Sportart insgesamt immer wieder schadet.
Dies alles ist aber vor allem der unzulänglichen WV anzulasten, die
solche bewussten oder unbewussten Manipulationen zulässt. Kaum verständlich
sind diese Dinge im heutigen Zeitalter der Hochtechnologie. Und wo
bleibt der sportliche Gedanke, das sportliche Ideal und das Fairplay
gegenüber den Athleten, die in keiner anderen Sportart so lange und so
viel investieren müssen wie bei uns? Hinzu kommt noch, dass der Turner
sich einen Namen erarbeiten muss, er muss sich hochdienen.
Genau so verheerend sind die
Auswirkungen auf unteren Ebenen, wo Kampfrichter ohne Profiqualität ein
Fehlurteil nach dem anderen fällen und es dadurch zu riesigem Ärger
und Streitigkeiten kommt. Von der Wirkung in der Öffentlichkeit ganz zu
schweigen.
Unsere WV wurden bisher nicht soweit entwickelt, daß Fehlurteile oder
Manipulation auf das Maß Minimum reduziert wurden. Daß es aber geht,
zeigen uns vergleichbare andere Sportarten.
3)
Unsere WV sind leider so angelegt, dass eine gerechte
Leistungsdifferenzierung nicht möglich ist.
Wenn z.B. bei einem WM-Gerätefinale die besten sechs Noten mit 9.7
Punkten beginnen und die Rangfolge 1 bis 6 mit der zweiten oder sogar
mit der dritten Stelle hinter dem Komma (also Hundertstel bzw.
Tausendstelpunkt) ermittelt wird, so ist das wenig genau und kann oft
große Ungerechtigkeit ergeben.
Diese Unzulänglichkeit ist damit begründet, dass nicht jede Übung
nach ihrem wahren inhaltlichen Wert abgefragt wird, sondern jeder
Turner, der die geforderte Mindestanforderung abgeliefert hat, die Höchstausgangsnote
erhält. So ist international in den meisten Fällen die A-Note die 10,0
und die Kampfrichter für die B-Note spielen, taktieren und manipulieren
im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die Endwerte liegen ja sowieso sehr eng
beieinander (siehe oben).
Jede dieser Finalübungen wird aber inhaltlich bei einem anderen System
Unterschiede aufweisen, so daß man sicher auf andere Ausgangswerte
kommen könnte, zumal dann, wenn man die Elemente in
Schwierigkeitsklassen einteilen und mit Werten versehen würde und auf
die "Deckelung" von 10.0 verzichtet.
Dieses wird wiederum besonders offenkundig, wenn man an untere
Bereiche denkt, wo es meistens keine vollwertigen Übungen gibt und eine
genaue Leistungsdifferenzierung eigentlich nur über die Addition der
Wertteile der gezeigten Elemente möglich ist. Eine sonst vollständige
Übung mit 10 C-Teile ist doch sicherlich anders (höher) einzustufen
als eine mit 3 C-Teilen. Auch so müsste bei unterschiedlichen Anteilen
von B-Teilen verfahren werden.
Schlussfolgerungen:
Wir brauchen WV,
- die über längere Zeit Bestand haben,
- die verständlich und einfach sind,
- die Skandale verhindern und trotz subjektiver
Beurteilung Manipulation gegen Null reduzieren,
- die die richtigen Rangfolgen ermitteln und in allen Bereichen die
Leistungen differenziert feststellen lassen.
An
Vorbildern haben wir ja bereits die gut funktionierenden Disziplinen
Wasserspringen und Trampolinturnen. Dazu müssten aber bei uns alte Zöpfe
abgeschnitten werden.
Ein Versuch dazu ist
leider in der Zeit von 1998 bis 2000 gescheitert. Die vom
FIG-Exekutivkomitee 1998 beschlossenen Richtlinien und Direktiven an die
FIG-Disziplinen verursachten bei allen Insidern zunächst Freude und
positive Erwartung (endlich) für die zukunftsträchtige Gestaltung der
WV.
Diese zunächst als die
energischen Bemühungen der FIG dargestellten Inhalte der Richtlinien wären
der entscheidende Einschnitt für eine zukunftsträchtige Entwicklung
gewesen.
Ohne den gesamten Katalog der
Richtlinien nochmals aufzulisten (siehe OTA 1998), hier nur einen
Kernsatz:
Die Regeln sollen „drastisch vereinfacht
werden, das Turnen für Teilnehmer, Publikum und Medien modernisiert und
damit attraktiv gemacht werden“.
Leider ist es nicht dazu gekommen,
eine riesige Chance vertan:
FIG-Präsident
Bruno Grandi, hat es 1999 zugelassen, dass dieses Vorhaben
gekippt wurde. Mittels einer fadenscheinigen Begründung hat er einen Rückzieher
aus dem von ihm mitbeschlossenen Vorhaben gemacht.
Andere haben sich
durchgesetzt und das Ergebnis war dann der Code 2001, der nach alter
Praxis wieder keine vernünftige Weiterentwicklung sondern Stagnation
darstellt
...
ein Schelm, der glaubt, im Sport sei keine Politik im Spiel:
Vollkommen unverständlich ist in diesem Zusammenhang die
derzeitige Position der USA, da sie doch als beteiligte Nation
durch den großen Skandal in Dortmund 1966 (Doris Fuchs-Brause)
unmittelbar betroffen war und bereits damals bittere
Benachteiligung erfahren musste. |
Auch Karl
– Heinz Zschocke formulierte in einem Interview (OTA 4/99)
seinen besonderen Wunsch, die künftigen WV verständlicher, einfacher,
publikumswirksamer und medienfreundlicher zu gestalten. Leider hat
bereits er die Zeit als Präsident des TKM – FIG (1984 – 1996) nicht
genutzt, um solche notwendigen Anliegen rechtzeitig zu realisieren.
Ebenso sind zu wenig die teilweise
wissenschaftlichen Ergebnisse aus den Kongressen und Symposien der
letzten 20 Jahre eingeflossen.
Wir sind gespannt, was uns der nächste Code bringt. Die derzeitigen Führungspersonen
der FIG Grandi und Stoica sind
gefordert. Handeln tut Not. Die richtigen Schritte in die richtige
Richtung zu tun, ist jetzt notwendig, bevor unsere Sportart weiter in der
Bedeutungslosigkeit versinkt.
Bernard
Schwermann, langjähriger Kampfrichter
Bad-Endorf
Deutschland
(26-Sep-2002)
Lesen Sie auch: Code de Pointage:
"Leistung in der Sardinenbüchse" (von Gisela Bader,
Ingelheim)
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