Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?
26-SEP-2002

Dauerbrenner Wertungsvorschriften

(- von Bernard Schwermann -)

  Dauerbrenner Wertungsvorschriften
Die in letzter Zeit erfolgten Veröffentlichungen über unsere Sportart Gerätturnen (Kunstturnen) sind größtenteils von großer Sorge getragen. Besonders deutlich wird dabei das Bedauern, dass unser Sport zu einer Randsportart abgedriftet ist.
Im Internet und dem Turnmagazin LEON* sind Äußerungen und Vorschläge gemacht worden, die sich auch vielfach auf das Regelwerk, hier besonders auf die Wertungsvorschriften (WV) beziehen.
Abgesehen von der Tatsache, dass Leistung und Erfolg immer noch das wichtigste Regulativ für die Anerkennung einer Sportart sind, ist hier die Frage, inwieweit sind die WV, als ein Grund unter mehreren, mit dafür verantwortlich, dass wir eine gesellschaftliche In-Akzeptanz und eine mediale Absenz konstatieren müssen.
Es sollen hier drei wesentliche Bereiche angeführt werden:
 

1) Es gibt keine vergleichbare Sportart, die es sich erlaubt, regelmäßig alle vier Jahre und teilweise auch noch dazwischen die WV zu ändern - und das seit ca. 40 Jahren!  
Unsere Sportart ist technisch-kompositorisch, vielfältig und aufwendig genug, als dass sie durch die WV noch mehr verkompliziert werden müsste. Die deshalb fehlende Kontinuität hat vielerlei Folgen:
- Ständige (aufwendige) Kampfrichterprüfungen, Umdenken und –handeln bei Turnern und Trainern, 
- Verunsicherung und Unverständnis bei Journalisten und Publikum, usw.
Hinzu kommt, dass die WV sich im Laufe der Zeit zu einem unvollkommenen Regelwerk entwickelt haben. Die WV sind der Sportart nicht gerecht geworden, sie sind der Entwicklung ständig hinterhergelaufen. Insofern waren die jeweiligen Änderungen hinsichtlich (vornehmlich) Schwierigkeitstabelle, Ausgangswert und Bonifikation nur halbherzige Anpassungen für den Augenblick, also Flickschusterei.
Da sich die Änderungen nur immer an der Weltspitze orientierten, ergaben sich für die unteren Bereiche verheerende Folgen:
Turner und Interessenten, Mitstreiter und Idealisten, Öffentlichkeit und Medien wendeten sich ab.
Aber damit noch nicht genug. Um das Maß voll zu machen, wurde auch das Wettkampfsystem und der Wettkampfkalender in der Vergangenheit einer oftmaligen Änderung unterzogen. Es kam teilweise zu einer Wettkampfflut mit entsprechender fehlender Kontinuität und Überschaubarkeit.

2) Eine Sportart, deren Leistungen subjektiv beurteilt werden, kommt oft in den Geruch, dass es nicht immer mit rechten Dingen zugeht. 
Aus der Vergangenheit sind uns die Riesenskandale, wo es um Fehlurteile, teilweise Manipulation und Betrug ging, noch geläufig.
Dass zu häufig nicht der wahre Sieger die Goldmedaille bekommt, damit scheint man sich mit Bedauern abgefunden zu haben. Die letzte Möglichkeit einer Begründung Tatsachenentscheidung kann man hier nicht geltend machen, damit macht man es sich zu leicht.
Auch zuletzt bei der WM in Gent waren wohl nicht immer die Richtigen auf dem oberen Podest, was auch wie alle anderen Vorgänge der Vergangenheit der Sportart insgesamt immer wieder schadet.
Dies alles ist aber vor allem der unzulänglichen WV anzulasten, die solche bewussten oder unbewussten Manipulationen zulässt. Kaum verständlich sind diese Dinge im heutigen Zeitalter der Hochtechnologie. Und wo bleibt der sportliche Gedanke, das sportliche Ideal und das Fairplay gegenüber den Athleten, die in keiner anderen Sportart so lange und so viel investieren müssen wie bei uns? Hinzu kommt noch, dass der Turner sich einen Namen erarbeiten muss, er muss sich hochdienen.
Genau so verheerend sind die Auswirkungen auf unteren Ebenen, wo Kampfrichter ohne Profiqualität ein Fehlurteil nach dem anderen fällen und es dadurch zu riesigem Ärger und Streitigkeiten kommt. Von der Wirkung in der Öffentlichkeit ganz zu schweigen.
Unsere WV wurden bisher nicht soweit entwickelt, daß Fehlurteile oder Manipulation auf das Maß Minimum reduziert wurden. Daß es aber geht, zeigen uns vergleichbare andere Sportarten.

3) Unsere WV sind leider so angelegt, dass eine gerechte Leistungsdifferenzierung nicht möglich ist. 
Wenn z.B. bei einem WM-Gerätefinale die besten sechs Noten mit 9.7 Punkten beginnen und die Rangfolge 1 bis 6 mit der zweiten oder sogar mit der dritten Stelle hinter dem Komma (also Hundertstel bzw. Tausendstelpunkt) ermittelt wird, so ist das wenig genau und kann oft große Ungerechtigkeit ergeben.
Diese Unzulänglichkeit ist damit begründet, dass nicht jede Übung nach ihrem wahren inhaltlichen Wert abgefragt wird, sondern jeder Turner, der die geforderte Mindestanforderung abgeliefert hat, die Höchstausgangsnote erhält. So ist international in den meisten Fällen die A-Note die 10,0 und die Kampfrichter für die B-Note spielen, taktieren und manipulieren im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die Endwerte liegen ja sowieso sehr eng beieinander (siehe oben).
Jede dieser Finalübungen wird aber inhaltlich bei einem anderen System Unterschiede aufweisen, so daß man sicher auf andere Ausgangswerte kommen könnte, zumal dann, wenn man die Elemente in Schwierigkeitsklassen einteilen und mit Werten versehen würde und auf die "Deckelung" von 10.0 verzichtet.
 Dieses wird wiederum besonders offenkundig, wenn man an untere Bereiche denkt, wo es meistens keine vollwertigen Übungen gibt und eine genaue Leistungsdifferenzierung eigentlich nur über die Addition der Wertteile der gezeigten Elemente möglich ist. Eine sonst vollständige Übung mit 10 C-Teile ist doch sicherlich anders (höher) einzustufen als eine mit 3 C-Teilen. Auch so müsste bei unterschiedlichen Anteilen von B-Teilen verfahren werden.

Schlussfolgerungen:
Wir brauchen WV,
- die über längere Zeit Bestand haben

- die verständlich und einfach sind, 
- die Skandale verhindern und trotz subjektiver Beurteilung Manipulation gegen Null reduzieren,
- die die richtigen Rangfolgen ermitteln und in allen Bereichen die Leistungen differenziert feststellen lassen. 

An Vorbildern haben wir ja bereits die gut funktionierenden Disziplinen Wasserspringen und Trampolinturnen. Dazu müssten aber bei uns alte Zöpfe abgeschnitten werden.  

Ein Versuch dazu ist leider in der Zeit von 1998 bis 2000 gescheitert. Die vom FIG-Exekutivkomitee 1998 beschlossenen Richtlinien und Direktiven an die FIG-Disziplinen verursachten bei allen Insidern zunächst Freude und positive Erwartung (endlich) für die zukunftsträchtige Gestaltung der WV.

Diese zunächst als die energischen Bemühungen der FIG dargestellten Inhalte der Richtlinien wären der entscheidende Einschnitt für eine zukunftsträchtige Entwicklung gewesen.
Ohne den gesamten Katalog der Richtlinien nochmals aufzulisten (siehe OTA 1998), hier nur einen Kernsatz:
Die Regeln sollen „drastisch vereinfacht werden, das Turnen für Teilnehmer, Publikum und Medien modernisiert und damit attraktiv gemacht werden“.

Leider ist es nicht dazu gekommen, eine riesige Chance vertan: FIG-Präsident Bruno Grandi, hat es 1999 zugelassen, dass dieses Vorhaben gekippt wurde. Mittels einer fadenscheinigen Begründung hat er einen Rückzieher aus dem von ihm mitbeschlossenen Vorhaben gemacht.

Andere haben sich durchgesetzt und das Ergebnis war dann der Code 2001, der nach alter Praxis wieder keine vernünftige Weiterentwicklung sondern Stagnation darstellt

 ... ein Schelm, der glaubt, im Sport sei keine Politik im Spiel: Vollkommen unverständlich ist in diesem Zusammenhang die derzeitige Position der USA, da sie doch als beteiligte Nation durch den großen Skandal in Dortmund 1966 (Doris Fuchs-Brause) unmittelbar betroffen war und bereits damals bittere Benachteiligung erfahren musste.

Auch Karl – Heinz Zschocke formulierte in einem Interview (OTA 4/99) seinen besonderen Wunsch, die künftigen WV verständlicher, einfacher, publikumswirksamer und medienfreundlicher zu gestalten. Leider hat bereits er die Zeit als Präsident des TKM – FIG (1984 – 1996) nicht genutzt, um solche notwendigen Anliegen rechtzeitig zu realisieren. Ebenso sind zu wenig die teilweise wissenschaftlichen Ergebnisse aus den Kongressen und Symposien der letzten 20 Jahre eingeflossen.

Wir sind gespannt, was uns der nächste Code bringt. Die derzeitigen Führungspersonen der FIG Grandi und Stoica sind gefordert. Handeln tut Not. Die richtigen Schritte in die richtige Richtung zu tun, ist jetzt notwendig, bevor unsere Sportart weiter in der Bedeutungslosigkeit versinkt.

Bernard Schwermann, langjähriger Kampfrichter
Bad-Endorf
Deutschland
(26-Sep-2002)

Lesen Sie auch: Code de Pointage: "Leistung in der Sardinenbüchse" (von Gisela Bader, Ingelheim)
.

Aktuelle Diskussion nach dem deutschen Turn-Desaster 
bei Olympia
2000,
nach der Turn-WM 2001 
sowie nach den "Konzentrationsversuchen" des DTB in der aktuellen Athenvorbereitung 2004
:

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