Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?
16-Dez-2001

Zum Reizthema: Wertungsvorschriften
(Von Rolf Bauch, Potsdam, langjähriger internationaler Kampfrichter)

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Rolf Bauch, Potsdam

Rolf Bauch ist der mit Abstand dienstälteste internationale Kampfrichter, besitzt 11 Brevets (K.-H. Zschocke und Boris Schachlin besitzen  8 Brevets) und ist Ehrenkampfrichter der F.I.G..
Von 1958 bis 1996 war er als Kampfrichter 9x bei Olympischen Spielen (Rom bis Atlanta), 14 Mal bei Weltmeisterschaften und zweimal im Weltcupfinale eingesetzt. Dazu kommen noch zahlreiche EM bei Senioren  und Junioren.
Von 1962 bis 1990 war er oberster Kampfrichter des DTV der DDR, arbeitete 10 Jahre als Vorsitzender des Trainerrates (männl.+ weibl.) uns war über 30 Jahre lang Cheftrainer des ASK Potsdam. In dieser Zeit errangen Potsdamer 
Athleten 22 Medaillen bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften. Bekannteste Turner sind Olympiasieger Holger Behrendt und die Weltmeister Jörg Behrend und Ralf Büchner.

Der Präsident der UEG Klaus Lotz hat sich nach seiner Wiederwahl beim 18. Kongress der UEG zum absteigenden Trend unserer Sportart geäußert und aufgefordert, dem entgegenzuwirken.

Zu den aktuellen Unzulässigkeiten, die der Attraktivität des Turnens schaden, gehören auch die zu  „komplizierten Wertungsvorschriften“. Sie tragen tatsächlich dazu bei, das Interesse und die Begeisterung des Publikums und der Medien am Kunstturnen zu vermindern, obwohl das natürlich nicht beabsichtigt ist. Die Wertungsvorschriften in der jetzigen Struktur existieren eigentlich erst seit 1964. Damit konnten Auffassungsdifferenzen, die zu Fehlurteilen bei den Wettkämpfen Führten, weitgehend beseitigt werden. Neben der Objektivierung und Vereinheitlichung stand seitdem als Grundsatz in jeder Überarbeitung (bisher zehnmal!), dass Ziel und Zweck der Wertungsvorschriften darin bestehen, für alle Ebenen, regionaler und internationaler Wettkämpfe, ein objektives Mittel zur Bewertung von Wettkampfführungen bereitzustellen, um damit zu einer einheitlichen (totalen) Bewertung im Gerätturnen zu kommen, die weltweit angewandt werden soll und kann.
Bedauerlicherweise hat sich beinahe jede Neufassung der WV weiter von diesem Ziel entfernt und dazu beigetragen, eine einheitliche Anwendung in Frage zu stellen. Diese Problematik ist längst erkannt. Überlegungen darüber, wie ideale Wertungsvorschriften endlich zustande gebracht werden können gibt es. Neben vielen Turnexperten, die sich dazu geäußert haben, sind die Standpunkte Hardy Finks (CAN) , TKM-Mitglied und vorher, von 1996 bis 2000 Präsident des Technischen Komitees der Männer der FIG, sehr interessant. 
In einem OTA-Beitrag: „Quo vadis  Wertungsvorschriften“ wurde bereits einmal über künftige und dauerhafte Wertungsvorschriften nachgedacht und das „additive Schwierigkeitssystem“ angesprochen. Darüber ließe  sich reden. Aber vorher muss  erkennbar werden, warum alle Korrekturen, das gemeinsame Ziel verfehlt haben, dauerhafte, einfacherer und anwendbare Vorschriften zu erarbeiten.  
Die Wertungsvorschriften sind dafür überfordert und falsch eingesetzt. Schließlich handelt es sich bei ihnen nur um Regeln, nach denen die Übungen der Aktiven im Wettkampf beurteilt werden.  

Wertungsvorschriften stellen weder den Leistungsentwicklungsplan des Gerätturnens, noch die Trainingsplanung dafür dar, obwohl sie darauf Einfluss haben können, sogar negativen!
Die immer stärkere Monotonie der individuellen Wettkampfübungen der Turner bestätigen das deutlich.  
Wenn die Überforderung der Vorschriften als solche akzeptiert wird, ist ihre ständige Veränderung nicht mehr notwendig. Es handelt sich sowieso immer nur um die Anpassung an die Schwierigkeitsentwicklung nach Abwertung von Übungselementen. Alle anderen Bewertungsfaktoren sind an der Komplizierung der Vorschriften nicht beteiligt, sie konnten sogar so vereinfacht werden, dass Wertungsdifferenzen weiter vermindert wurden.
Die für die Wertungsvorschriften verantwortlichen Gremien haben - mit Verlaub - die Probleme längst erkannt. Es gehört aber Mut dazu, die ständige Modernisierung des Turnens anzustreben, ohne die Grundsätze zu umgehen, die Grundlage der Leistungsstruktur unserer Sportart sind und bei der Leistungsbeurteilung eine Rolle spielen sollten.  
Was geturnt wird, der materielle Wert der Wettkampfübung ist wichtig, aber die technische Ausführung, die Gestaltung der Kombination und die damit erzielte Wirkung sind ein wesentlicher Unterschied zu Disziplinen, bei denen die Leistung gemessen wird. Unsere Wertung nach Punkten erreicht zwar nicht die letzte Exaktheit, sie hat jedoch den Vorzug, dass sie von der Leistung des Aktiven mehr erfasst, weil auch die ästhetischen Faktoren eine Rolle spielen können und nicht nur ein neuer Rekord erzielt werden soll.

Diese Grundsätze der Bewegungslehre deuten auch darauf hin, dass die Summe von Einzelteilen weniger ist als das Ganze. Die Aufteilung der Kampfgerichte in A und B erscheint daher fraglich, erst recht wenn eine Begründung dafür lautet, dass es sich sonst um eine Überforderung der Kampfrichter handele. Was machen wir denn dann mit dem Publikum oder den Medien, bei den wir uns doch besser vermarkten wollen als es uns bisher gelungen ist...?

Unsere Probleme mit den Wertungsvorschriften bleiben solange unlösbar, solange die Schwierigkeitstabellen instabil sind. Ständige Abwertungen tragen dazu bei, Turner und Zuschauer aus den Wettkampfhallen zu vertreiben. Das erscheint nicht weniger starke Turnnationen zu belasten. Die Absage der chinesischen Turner zu den Weltmeisterschaften 2001 in Gent muss damit nicht in Verbindung stehen – aber immerhin!

Die einseitige Konzentration der Wertungsvorschriften auf die Schwierigkeit muss auch beseitigt werden. Das hätte zur Folge, Virtuosität und Originalität wieder in in die Bewertung einzubeziehen, um die Monotonie zu bekämpfen. Sicherlich ist auch zu prüfen, ob der Umfang der Kampfgerichte in der heutigen Form unbedingt erhalten bleiben muss.

Letztlich soll noch erwähnt werden, dass die Wertungsvorschriften eigentlich wenig mit Wettkampfprogramm und Wettkampfausschreibung zu tun haben. Das bleibt national, regional und international den jeweiligen Veranstaltern überlassen und kann durchaus verschieden sein. Mit der Bewertung hat das kaum etwas zu tun. Die sollte mit stabilen und lange gültigen Regeln vereinfacht werden, damit man sie überall beschleunigt anwenden kann.

Jeder echte Fortschritt in diese Richtung kann bewirken, die Kritik des Präsidenten der UEG an der absteigenden Tendenz unserer attraktiven Sportart zu mildern und die hausgemachten Probleme mit den Wertungsvorschriften zu vermindern.

Rolf Bauch
Potsdam, 200

Diskussion:

   
19-Dez-2001 "... für Zuschauer nachvollziebar...!" Mario Caccivio
18-Dec-2001 .. eine nach oben offene Schwierigkeitstabelle. G.Bader

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Aktuelle Diskussion nach dem deutschen Turn-Disaster bei Olympia und
nach der Turn-WM 2001...:

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