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Auf einmal sieht der Tag
von Yvonne Pioch ganz anders aus: "Morgens trainiere ich zwei Stunden
ab", schildert die 19-jährige Turnerin vom SC Berlin ihr neues Leben nur wenige
Stunden nach ihrem Rücktritt. "Nachmittags trainiere ich dann Mädchen aus der
ersten Klasse, und am Abend turne ich mit meiner neu gegründeten Showgruppe."
Am Dienstagabend war die achtmalige deutsche Meisterin zurückgetreten.
Wer Yvonne Pioch kennt, den überrascht dies nicht. Seit drei Wochen hatte sie nicht mehr
leistungsorientiert trainiert. Zu tief saß die Enttäuschung, nicht für Olympia in
Sydney qualifiziert zu sein, zu hoch sind die Anforderungen, um einen
Einzelstartplatz zu erhalten. Mit dem 15. Rang in der Mannschaftswertung bei der WM
im Oktober in China
verpasste das Team die Norm für Sydney. Zwei Turnerinnen können sich dennoch
qualifizieren, sollten sie bei den Europameisterschaften in Paris die vom Nationalen
Olympischen Komitee (NOK) gestellte Voraussetzung erfüllen: mindestens Platz zehn im
Mehrkampf oder Rang sechs in einer Einzeldisziplin.
Oft verletzt oder krank
"Die Chance, das zu schaffen, ist viel zu gering", begründet Pioch ihren
Entschluss, der in den Weihnachtsferien nach Gesprächen mit ihren Eltern gereift ist.
1996 war sie bei den Spielen von Atlanta dabei ohne die Aussicht auf eine zweite
Olympiateilnahme fehlt der derzeit erfolgreichsten deutschen Turnerin jegliche Motivation.
Zu oft hat Pioch sich die Frage nach dem Sinn von 30 Stunden Trainingsstrapazen pro Woche
gestellt. 1996 musste sie sich nach einem Innenbandriss wieder heranarbeiten, 1998
pausierte sie wegen Pfeifferschen Drüsenfiebers. Nach der Enttäuschung im Oktober konnte
sie ihr langjähriger Trainer Steffen Gödicke noch dazu bewegen, bis zum Ende der Saison
weiterzumachen. Nun aber blieb dem Coach nichts anderes übrig, als die Entscheidung
seiner verletzungsanfälligen Schülerin zu akzeptieren.
"Ich verstehe ihren Schritt", erklärt Gödicke, "aber
nach so vielen Jahren tut es schon weh." Zumal dem Leiter des Berliner
Olympiastützpunkts ob der strengen Qualifikationskriterien für Sydney langsam die
Turnerinnen ausgehen: Bereits im Dezember gaben die deutschen Meisterinnen Katrin Kewitz
(TSC Berlin), Janina Dube und Samira Jäger (beide SC Berlin) ihren Abschied bekannt.
"Wir müssen jetzt neu aufbauen", sagt Gödicke. Der Berliner
Stützpunkt schneidet zwar nach wie vor recht gut im deutschen Vergleich ab, doch es droht
eine Schwächung, wenn nach Olympia Mittelkürzungen ins Haus und Trainerstellen zur
Disposition stehen. Viel wird davon abhängen, wie schnell sich Katja Abel und Gritt
Hofmann nun, nach einem Jahr Zwangspause, an die deutsche Spitze zurückturnen.
Yvonne Pioch beschleichen derweil beim Betreten der Trainingshalle in Hohenschönhausen
zwiespältige Gefühle. "Einerseits ist es schön, dass der Druck weg ist, und ich
nur das turne, worauf ich Lust habe", sagt die viermalige WM-Teilnehmerin,
"andererseits werde ich immer ein wenig traurig." Mit dem Showturnen stellt sie
den Spaß in den Vordergrund. Damit hat sie ihre Entscheidung getroffen: für einen
langsamen Abschied von ihrem Sport.
Michael Kölmel, Artikel in der Berliner
Zeitung vom 27. Januar 2000
Siehe auch: GYMmedia-Exclusiv-Interview
(26-01-2000): "Ende der
Bedenkzeit - Ende der Karriere"
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