Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?
21-Oct-2002

DTL-PERSPEKTIV-KONGRESS  (3)
"Turnnation Deutschland - Zukunft des olympischen Spitzensports"

(GYMmedia-Reports)

 

Beitrag zum Perspektivkongress
TURNNATION DEUTSCHLAND – Zukunft des olympischen Spitzensports

Der folgende Beitrag war als Grundsatzreferat und als Einstiegsbeitrag vor der Diskussion des Kongresses gedacht und vorbereitet.
In konkreter Situation aber wurden die Inhalte als Diskussionsbeitrag im Kongressverlauf angeboten.
Im Folgenden hier der ganze Redebeitrag:
                      
   Teil I: "Klärung von Grundsatzfragen"

Autor: Eckhard Herholz
Turnjournalist
Geschäftsführer GYMmedia 

 

Die Situation eines dramatischen Leistungsabstiegs – wohl des größten in der gesamten deutschen Turngeschichte -  im letzten Jahrzehnt ist bekannt und bedarf an dieser Stelle keiner Zahlenbelege mehr.
Nicht die Personaldiskussion steht hier im Mittelpunkt, sondern sie selbst ist ja nur die Folge von Fehlentwicklungen und Ursachen, die es hier zu analysieren gilt – mehr noch:
Für die es hier um Lösungen, Auswege und Strukturen geht.

Ich sehe zwei Hauptaufgaben:
1. Sofortmaßnahmen zur Sicherung der anstehenden Olympiaqualifikationen,
Hierzu laufen bereits die Vorbereitungen, Konzentrierungs- und Lehrgangsmaßnahmen, Leistungs- und Wettkampfplanungen sind sicherlich in vollem Gange – Personaldebatten und Verantwortlichkeiten gilt es schnellst-möglich abzuschließen......
Das sind die aktuellen Aufgaben des DTB –  die lasse ich hier einmal außen vor, auch wenn sie absolute Priorität haben: Nicht auszudenken, wenn die Turnnation Deutschland aus der Olympic Family – nach den Frauen nun auch bei den Männern - ausgeschlossen bliebe...!
 
aber parallel dazu geht es um

2. Maßnahmen einer mittel- und langfristigen Leistungsentwicklung.
Maßnahmen zur mittel- und langfristigen Leistungsentwicklung – sprich: Final- und Medaillenleistungen zur WM 2007 und Medaillen- und Siegleistungen zu den Olympischen Spielen 2008 / 2012.

Was ist hier zu tun?
Ich sehe zuvor mehrere Grundsatzfragen, vor denen m. E. der Deutsche Turner-Bund noch immer und permanent steht und die durch die sog. „neue Verbandsstruktur“ derzeit nicht gelöst, sondern z.T. dramatisch verschärft wurden:

  1. Welche Rolle spielt ein an internationalen Maßstäben ausgerichteter Leistungssport in der Verbandsphilosophie des Sportverbandes DTB?
  2. Welcher Strukturen bedarf der Sportverband zur Entwicklung von sportlicher Leistung und zur disziplingerechten Wettkampftätigkeit?
  3. Welche Szenarien ergeben sich für DTB – gemessen an der rasanten medialen Entwicklung - um wieder größere öffentliche Wahrnehmung, größere Außenwirkung zu erzielen

Zu Punkt 1: Hier ist eine strategische Korrektur größeren Ausmaßes erforderlich:
Es ist sportpolitisch völlig wirkungslos, wie die letzten Jahrzehnte bewiesen, gebetsmühlenartig den „Spagat“ zwischen Spitzen – und Breitensport zu beklagen oder immer wieder zu verbalisieren, sondern:
Ein nach humanen Prinzipien und international ausgerichteten Zielen gestalteter Spitzensport muss zum Kernstück der Verbandsarbeit gehören, weil er strategisches Hauptmittel öffentlicher und medialer Erkennbarkeit ist.
Brutal – aber wahr: Ohne Turnhelden, Gymnastik-Stars, Trampolin-Champs, Aerobic-Sieger ... keine Fernseh-Minuten.
Gnadenlos: Ohne TV-Präsenz – keine Sponsoren, ohne Sponsoren – leere Kassen.
Den Teufelskreis kennt jeder. Ein Beklagen der Umstände und Außenbedingungen bringt keine Lösungen!

Hier ist deshalb zunächst  innerhalb des DTB eine völlig neue Wertediskussion angesagt!
Diese aber hat – bitte schön, absolut nichts, aber gar nichts mit einer Abwertung der Rolle des Freizeit- und Breitensportbereiches zu tun – den betreibt schließlich die erdrückende Mehrheit dieses faszinierenden 5-Millionen-Gebildes – erdrückend aber, in des Wortes wahrster Bedeutung!!

Strategische Neuausrichtung, das heißt:
Damit  eine 4 Millionen freizeit- fitness- und bewegungsbewusste Riesenmasse der Gesellschaft auch weiter und immer besser ihren Ausgleich im DTB, jeder in seinem Verein, suchen, finden und gestalten kann,
- muss man der anderen Million (oder halben Million) leistungsorientierter Kinder, Talente, Jugendlicher und Erwachsener solche Bedingungen schaffen, dass sie ihren Sport bis hin zu nationalem und internationalem Ruhm betreiben kann und zwar in letzter Konsequenz!!
Das Wort „strategisch“ bezieht sich dabei auf die künstlich und medial erzeugte, aber objektiv vorhandene Überbedeutung der Spitzen-Leistung, der Topstars, der Helden, die diese Gesellschaft scheinbar braucht, die unsere Kinder auch als Vorbilder benötigen, ...... die gebraucht werden, um ständige Reizschwellenwerte in unserer Kommunikationsgesellschaft zu produzieren, die ihren Marktwert aus ihrem Unterhaltungswert beziehen....
Looser werden aussortiert, nicht gesendet, finden nicht statt – ob man das gut findet oder nicht –
es sind Tatsachen.
Also bedarf es deswegen der sportpolitischen Neuausrichtung oder Korrektur eines jeden Funktionärs, der im oder für einen Turnverband oder – verein arbeitet, handelt oder Verantwortung trägt:

  • Wer nicht alles in seinem Verantwortungsbereich für die Entwicklung eines modernen Wettkampfsports aller Disziplinen, des Nachwuchs- und Spitzensports tut,
    - der schädigt  die Zukunftsaussichten und damit  a l l e  Bereiches des Sportverbandes DTB,
    - der handelt strategisch unklug und
    - der entzieht seinem Verband enorme Möglichkeiten externer Re-Finanzierung.
      Stichwort: Wirtschaft, Sponsoring, Partnerschaften, TV-Gelder....!!

Wer dies nicht erkennt oder dagegen verstößt, hat in verantwortungsvollen Positionen nichts zu suchen!

Ich weiß, wie provokant das wirkt. Das ist meine Absicht – aber keine Überspitzung! Davon hängt die Zukunft des Sportverbandes DTB ab,
- dessen Haupttendenzen momentan extrem in Richtung eines Freizeit- und Erholungssport-Verbandes zeigen... der im Extremfalle gar als „Volksbelustigungsverband“ bezeichnet wird (hunderte Performances, Landesturnfeste, Gymnaestraden usw.... bedürfen des qualitativ und verstärkten Gegenstücks qualitativer Sportwettbewerbe. Das will und braucht unsere Jugend auch!)
- dessen Kernsportarten und wettkampforientierten Disziplinen bedrohlich in einem Verdrängungswettbewerb sowohl quantitativ als auch qualitativ zu unterliegen drohen,
- dessen Spitzensportbereich internationalem Anspruch zunehmend weniger genügt und
- der deshalb vor ernsten Debatten seiner Struktur steht oder gar seiner Zukunft gestellt werden könnte:

Nicht zum ersten Male steht die Frage im Raum, ob sich die leistungs- und wettkampforientierten Disziplinen und olympischen Kernsportarten noch vom DTB richtig vertreten fühlen.
- Es sei an die Bemühungen aus den Zeiten eines Herrn Albert Zellegen in den sechziger Jahren erinnert, der damals bereits für eine eigenständige Kunstturn-Vereinigung „KTV“ plädierte, sogar bereits erste Medaillen prägen ließ,
- oder an die Diskussionen in den achtziger Jahren (Herwig Matthes) u.a., als man sich in der damaligen Systemauseinandersetzung des kalten Sportkrieges insbesondere mit dem anderen deutschen Turnmodell in der DDR erneut intensive Gedanken über Eigenständigkeit machte...
- bis zuletzt 1996 ... ich erinnere an die Vorschläge von Jürgen Uhr u.a. (Satzung der D O T, „Deutsches Olympisches Turnen“) -  als die extreme Rückentwicklung im Frauenbereich zur olympischen Nichtteilnahme einer deutschen Riege in Atlanta führte und dieselbe Tendenz trotz des Weckergoldes auch bei den Männern längst absehbar war....
In allen diesen Fällen kam man über Androhungen oder Denkansätze nicht hinaus – man wurde nicht ernst genommen, es verlief sich im Sande.....
Ich glaube, ein neuerlicher Ansatz in diese Richtung sollte vom DTB nicht unterschätzt werden, denn noch nie war die Situation so prekär, weil derart durch die gesellschaftlichen Prozesse zugespitzt.
 
Zurück zu der von mir begründeten Wertediskussion:
Deshalb also - aus existentiellen Gründen – muss von DTB-Funktionären ein Umdenken gefordert werden, wenngleich von ihnen weiterhin dasselbe Engagement für alle ihre Verbands- und Vereinsinteressen wie bisher erwartet wird – das eine tun ohne das andere zu lassen.

Es sind nämlich Grundsatzfragen zu klären:
Zu Punkt 2.  Welcher Strukturen bedarf der Sportverband zur Entwicklung von sportlicher Leistung und zur disziplingerechten Wettkampftätigkeit?

Die Praxis beweist schmerzhaft:
Der Spitzen- und Wettkampfsport bedarf umgehend einer strukturellen Eigenständigkeit, anzustreben zunächst unter dem Dach des DTB (- ich verweise auf den Status etwa der Deutschen Turnerjugend...).
Es sind dies die Zeichen der Komplexität der Prozesse des nationalen und internationalen Berufssports und seiner Einbindung und Verflechtung in Medien, Wirtschaft und Gesellschaft, d
ass eine solche sich selbst verwaltende Struktur nur professionell, also hauptamtlich sein kann!
Dabei sind an die Akteure solcher Strukturen
höchste Kompetenzansprüche zu stellen. Sie müssen mehr als nur Ahnung haben, von dem was sie tun!
Mit Verlaub:
– es geht doch nicht an, dass Funktionäre im Ehrenamt oder als Rentner ausgerechnet den Olympischen Spitzensport verwalten oder verantworten – bei allem Engagement....
- es kann doch nicht sein, dass Technische Komitees durch private Personalentscheidungen und damit willkürlich zusammengesetzt werden,
- es ist doch kurios, wenn durch Inkompetenzen statt nach objektiven Kompetenzmerkmalen breitensportlastige Gremien beginnen, Regeln für den Spitzensport aufzustellen und dabei die Gefahr akute besteht, internationale Regelwerke auszuhebeln. (Nationale Alleingänge, wie schwedische, belgische, skandinavische o.a. Subjektivismen hat doch unsere Sportart schon vor über 80 Jahren überwunden.)

Bei der Schaffung eines wirklich professionellen Management zur Lösung all solcher Fragen
sollte der nach Fußball zweitgrößte Sportverband im Lande, der größte Sportverband der Welt eigentlich und schon längst die Vorreiterrolle bei der Schaffung solcher Strukturen spielen,
ja mehr noch:
Er sollte darin eine attraktive Herausforderung sehen !!! Auch das sei Bestandteil – HAUPT-bestandteil einer neuen Wertediskussion...!
Eine Analyse der Brauchbarkeit momentaner Strukturen sollte sich nur noch darauf beschränken, Wertvolles und Verwendbares weiter zu führen, aber:
Arbeitsschwerpunkt eines zu bildenden Expertenrates des Leistungssportes sollte sein:

Wie muss die effiziente Struktur eines hochkompetenten Führungs- und Leitungsteams, eines Sportmanagements, aussehen, 
- dass in erster Etappe bis 2004
- in zweiter Etappe bis 2008 – mit Zwischenzielstellung WM 2007 und
- in dritter Etappe bis Olympia 2012
Deutschland mit seinen olympischen und nichtolympischen Wettkampfdisziplinen wieder in internationale Medaillenbereiche zurück geführt werden kann.

Ein solches professionelles, autarkes Management steht vor folgenden Schwerpunktaufgaben:

1.   Bildung einer kompetenten und effektiven Innenstruktur und Selbstverwaltung, gemessen an den Erfordernissen des modernen, internationalen Spitzensports, deren Hauptziele die Bedingungen und die Wege zu sportlichen Höchstleistungen sind.

2.   Schaffung von Verbindungen zu geeigneten Strukturen national und global agierender Wirtschaftsbereiche.

3.   Aufbau von öffentlichkeits- und medienwirksamen Außenwirkungen vielfältigster Art.

4.   Sicherung und Perfektionierung der Verbindungslinien zur Gesamtheit der jeweiligen Disziplin und ihrer Verbandsstrukturen im Sinne der Einheitlichkeit und Einheit der Sportart und zu ihren Mitgliedern als wesentliche Zielgruppenbestandteile sowie

5.   Koordination aller Schwerpunkte mit den entsprechenden Gremien des Verbandes.

Solcherart Grundsatzfragen stehen vor unseren komplexen aber schönen Sportarten und Disziplinen, will man sie im Zeitalter der Spaßgesellschaft vor Fit- und Fun- und anderen Feez-Einflüssen abgrenzen, erhalten und als echte leistungsorientierte Alternative für Kinder und Jugendliche mit Erfolg anbieten.
Nach Klärung solcherart Grundfragen sind dann die im Detail liegenden verschiedensten Szenarien zu schreiben, die einen wieder erfolgreichen Sportverband DTB im ersten Jahrzehnts dieses neuen Jahrtausends ausmachen sollten...:

    >> Fortsetzung: Teil 2:  Beispiele, Vorschläge und Szenarien

Aktuelle Diskussion nach dem deutschen Turn-Desaster 
bei Olympia
2000,
nach der Turn-WM 2001 
-
nach den "Konzentrationsversuchen" des DTB in der aktuellen Athenvorbereitung 2004
- sowie nach dem DTL-Perspektivkongress in Chemnitz
:

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