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11-07-2000

Hat Jahn ausgeturnt?

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F.L.JAHN

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Unter der Überschrift "Ausgeturnt" meldete die ZEIT am 13.04.2000, dass sich die Hamburger Jahnschule von ihrem "finsteren Namenspatron, dem Rassisten und Antisemiten Friedrich Ludwig Jahn" getrennt habe. "Hauptsache, Jahn ist weg. Und andere Schulen nehmen sich ein Beispiel dran und befreien auch ihre Namen von Protonazis wie Jahn und Ernst Moritz Arndt!"

DTB-Vizepräsidentin Prof. Dr. Gertrud Pfister
nimmt im Folgenden Stellung zu dieser unreflektierten Sichtweise:

"Ich habe die ZEIT bis jetzt als seriöses Blatt mit gut recherchierten Berichten und ausgewogenen und begründeten Urteilen geschätzt. Umso entsetzter oder besser enttäuschter war ich, als ich den oben erwähnten Artikel gelesen habe. Selbstverständlich kann sich jeder Mensch und auch jede Schule Vorbilder suchen und Namenspatrone oder -patroninnen auswählen. Wünschenswert wäre, dass diese Auswahl - oder auch die Abwahl - begründet und sinnvoll ist und dass man sich ausgiebig mit der Persönlichkeit, den Aktivitäten und auch den Hintergründen, mit den Stärken und Schwächen der Namensgeber/innen befasst.

Finsterer Namenspatron oder begnadeter Pädagoge?

War Jahn, wie der Artikel in der ZEIT suggeriert, wirklich Antisemit, Militarist oder gar Nationalsozialist? Müssen wir wirklich Schulen, Turnhallen und Straßen, die seinen Namen tragen, umbenennen? Oder war Jahn, wie andere meinen, ein begnadeter Pädagoge und großer Politiker? Jahn ist sicherlich eine umstrittene Persönlichkeit, und seine Schriften und Aktivitäten wurden in seiner Zeit und werden auch heute kontrovers beurteilt. Dabei wurden und werden häufig, auch in der ZEIT, Emotionen geweckt und Vorurteile geschürt, Demagogie ersetzt die sachliche Auseinandersetzung. Bei der Beurteilung Jahns ist die historische Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts - der Widerstand gegen die französische Besatzung und die Verbreitung liberaler und nationaler Bestrebungen - ebenso zu berücksichtigen wie die Widersprüchlichkeit vieler seiner Aussagen und Handlungen. Jahn war nicht weise und abgeklärt, das Bild vom "Alten im Barte" wird ihm nicht gerecht. Er war 33 Jahre alt und eher ein "Revoluzzer" als der Lehrer, der er eigentlich werden wollte, als er mit seinen Anhängern, überwiegend Schülern und Studenten, den Turnplatz auf der Hasenheide einrichtete. Jahn begeisterte seine Gefolgsleute aber nicht nur für das Turnen, sondern auch für seine pädagogischen und politischen Zielsetzungen: für die Volkserziehung, die Befreiung Preußens von der französischen Vorherrschaft, für die deutsche Einheit und für die politische Mitbestimmung des Volkes. Jahn war ein Anhänger der liberalen Nationalbewegung und als solcher trat er aktiv für die Menschenrechte und die Verfassung ein. Und dass sich der Patriotismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts grundlegend vom Nationalismus der Kaiserzeit unterschied, ist Konsens in der Geschichtswissenschaft. Die Anhänger der preußischen Reformbewegung als "Protonazis" zu "outen", ist schlichtweg Unsinn, über den man eigentlich kein weiteres Wort verlieren sollte. Jahns Ziele sind seit langem erreicht. Sind damit auch die Ideen und Konzepte Jahns ad acta zu legen?

Was kann uns Jahn heute noch bedeuten?

Sicherlich können weder die Zielsetzungen und Vorstellungen Jahns noch die Übungen und die Praxis des Turnens einfach in die Gegenwart übertragen werden. Trotzdem kann eine kritische Auseinandersetzung mit positiven und negativen Aspekten der frühen Turnbewegung viele Anregungen bieten: Diskussionsstoff können beispielsweise die Einbettung der sportlichen Aktivitäten in einen politischen und pädagogischen Kontext, vor allem das Eintreten der Turner für die Menschen- und Bürgerrechte, aber auch die Vorstellungen von Gleichheit und Brüderlichkeit liefern, die in der einheitlichen Turntracht ihren Ausdruck fand. Die Ideen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen bezogen sich allerdings nur auf das "starke Geschlecht". Der Ausschluss der Mädchen und Frauen aus der Turnbewegung, seine Folgen für die

Weiterentwicklung des Turnens und die Bedeutung der gegenwärtigen "Frauenmehrheit" im DTB sind ebenfalls Themen, die anknüpfend am von Jahn und seinen Mitstreitern entwickelten Turnen reflektiert werden sollten.Vorbildhaft sind zahlreiche Komponenten der Turnpraxis: die Vielfalt der Turnübungen, die von Kunststücken an Geräten, über Laufen, Werfen und Springen, Klettern und Ringen, bis hin zu Spielen und Turnfahrten reichte; die Ablehnung von Drill; die Beteiligung aller Turner an der Erfindung und Entwicklung von Übungen; die Bedeutung der relativen, an den körperlichen Voraussetzung des Turners gemessenen Leistungen; die Betonung der ganzheitlichen körperlichen und charakterlichen Ausbildung; das Ziel der "körperlichen Ertüchtigung" breiter Bevölkerungskreise; die Betonung von Spielen und Fahrten, die für die Jugendlichen besonders faszinierend waren; das Streben nach Gemeinschaftsgefühl und Gruppenzusammenhalt.

Wer einmal in der von Jahn und Eiselen herausgegebenen "Turnkunst" geblättert oder sogar an den historischen Turngeräten auf der Berliner Hasenheide geturnt hat, erhält einen hervorragenden Eindruck vom Turnen Jahns, der ihm auch einen kritischen Blick auf die gegenwärtigen Tendenzen im Sport ermöglicht. Wenn man Tradition nicht als Sofa, sondern als Sprungbrett und Geschichte als Schritt zurück in die Zukunft betrachtet, dann kann die kritische Auseinandersetzung mit Jahn und seinem Konzept des Turnens dazu beitragen, die Geschichte der Turnbewegung mit ihren Licht- und Schattenseiten und damit auch die Geschichte des Sports in Deutschland zu verstehen. An den sich wandelnden Zielen, Prinzipien und Inhalten des Turnens lässt sich hervorragend die Vielfalt von Bewegungskulturen illustrieren, die durchaus auch heute Alternativen zum modernen Sport mit seinem Wettkampf- und Rekordprinzip bieten. Tradition ist zudem Voraussetzung für die Entwicklung von Zusammengehörigkeitsgefühl, das alle Gruppen und Verbände brauchen, sie fördert die Identifizierung mit den Turn- und Sportorganisationen und ermöglicht dadurch den Aufbau von corporate identity.

Daher ist weder eine kritiklose Glorifizierung Jahns noch die Zerstörung der Jahnbüsten sinnvoll. Nur eine sachliche Diskussion seiner Schriften und Taten vor dem Hintergrund der Zeit kann für die Gegenwart wichtige Erkenntnisse und Einsichten über Turnen und Sport liefern. Eine Umbenennung von Schulen und Straßen ist deswegen nicht nur unnötig, sondern für ein sinnvolles Umgehen mit der Vergangenheit sogar kontraproduktiv."

Prof. Dr. Gertrud Pfister
(Quelle: "Deutsches Turnen" 07/2000)

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