Köln - Das atemberaubende Tempo der elektronischen
Revolution wird im neuen Jahrhundert die Medienwelt nachhaltig verändern. Für die WELT
wagt Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Hackforth am Jahresanfang 2000 eine Prognose über die
Entwicklung der Sportberichterstattung anhand von zehn provokanten, wegweisenden Thesen.
Als Leiter und Lehrstuhlinhaber am Institut für Sportpublizistik in Köln stützt
Hackforth seine Erkenntnisse auf die dortigen Untersuchungen.
- These 1: "Es wird zukünftig kein einheitliches Berufsbild für
Sportjournalisten mehr geben!"
Die aktuellen und professionellen Funktionen im Sportjournalismus können nur noch
unter medienspezifischen Bedingungen erklärt werden. Agenturen, Tageszeitungen,
Zeitschriften, Hörfunk und Fernsehen bekommen ein weiter ausdifferenziertes
Anforderungsprofil für Sportjournalisten und eine Funktionsreduzierung je nach Medium und
Auftrag. Die Segmentierung des Berufsstandes nimmt stärkere Konturen an, ein
einheitliches Ausbildungs- oder Weiterbildungsprofil greift zu kurz. Hinzu kommen neue
Berufsbilder, z.B. Online-Redakteure oder Web-TV-Spezialisten, denen erst eine neue
Ausbildung und ein geregelter Zugang zugewiesen werden müssen. Aus der "Clique von
Kumpeln" oder den "Außenseitern der Redaktion" ist ein moderner
Berufsstand geworden, der nicht mehr medienübergreifend bewertet werden darf.
- These 2: "Die Boulevardisierung der Sportberichterstattung wird weiter
zunehmen, partielle Tendenzen eines Präzisionsjournalismus werden komplementär
wirken!"
Die besonders seit der Öffnung des Rundfunksystems zu beobachtende Tendenz einer
zunehmenden Unterhaltungsorientierung im Sportjournalismus (auch Selbstdarstellung) hat
vor keinem Medium Halt gemacht. Diesem "Amüsieren" um jeden Preis setzen sich
Tendenzen eines stärker investigativ und evaluativ orientierten Sportjournalismus
entgegen. Die notwendige Komplementärfunktion haben zahlreiche Medien mit Erfolg bereits
praktiziert - publizistisch und ökonomisch.
- These 3: "Der Berufsstand wird von einem weiteren Autonomieverlust
erfasst!"
Früher wurde in der Redaktion entschieden wer, wo, was und vor allem wann
journalistische Aufgaben erledigt werden müssen. Kriterien der Selektion, Realisation und
Präsentation lagen originär bei den Journalisten. Heute sind Übertragungs- und
zukünftig womöglich auch Berichtsrechte vergeben, Akquisition und Vermarktung sind
vorgegeben. Entscheidungen über die Frage, ob, wie und wann berichtet wird, liegen
zunehmend außerhalb der Sportredaktion. Der Sport als Ware unterliegt ökonomischen
Gesetzmäßigkeiten häufig eher den publizistischen Grundforderungen. Hörfunk wird dem
Fernsehen nacheilen, die Agenturen und Printmedien sowie Sportfotografen werden folgen.
Die Entscheidungen werden durch Rechte, Nachfrage und vor allemwerbeträchtige Vermarktung
determiniert.
- These 4: "Die Konvergenz in Köpfen und Kanälen wird weiter zunehmen,
zielgruppendefinierte Spartenprogramme durchbrechen das more of the same!"
Während die marktführenden Vollprogramme stets auf Massenattraktivität und damit
hohe Quoten und Marktanteile achten müssen, ist der Spielraum für Spartensender
größer. Spezielle Zielgruppen, interessante Sportarten sowie die Möglichkeit des
journalistischen Experiments lassen Hoffnungen keimen, die mit dem Begriff
"elektronischer Kiosk" beschrieben werden. "Your personal TV" mag als
Synonym für den Versuch gelten, auch kleinere Zielgruppen zu bedienen: Bei 150 Kanälen
müsste dies möglich sein.
- These 5: "Der Nachweis aggressiverer Recherchemethoden im Journalismus ist
durch zahlreiche Studien erbracht, auch der Sportjournalismus wird greller und
skrupelloser!"
Studien aus den USA und Deutschland belegen diesen Trend, der bis zur Leugnung der
eigenen Identität und Absicht führt, vor kriminellen Handlungen nicht zurückschreckt
und unfaire, illegale Verhaltensweisen legitimiert. Man recherchiert sich seine
"heiße Geschichte" nicht kaputt, man inszeniert, was de facto noch gar nicht
passiert ist, um das Eintreten desselben zu beschleunigen. "Self fullfilling
prophecy" wird das genannt und ist durch ungezählte Trainerentlassungen belegbar. Ob
gut unterrichtete Kreise, Stimmen aus der Nähe des Protagonisten oder Gerüchte, die sich
meist bestätigen. Mit diesen Nebelkerzen werfen längst nicht nur Boulevardjournalisten
um sich - die Strukturen sind überall ähnlich, nur unterschiedlich drastisch
ausgeprägt. Bisweilen ist der gepflegte Zynismus jedoch für Betroffene und Beteiligte
schmerzhafter als der direkte Affront. Obwohl 85 Prozent der Sportjournalisten meinen, sie
seien wirkungsvoll und mit "Macht" ausgestattet, akzeptieren sie nur zu 30
Prozent die These "Opfer" zu produzieren, währenddessen sie am Heldenepos zu 60
Prozent beteiligt sein wollen. Negative Konsequenzen des professionellen Handelns werden -
weltweit im Journalismus - stets seltener gesehen als positive! Ich bitte, kein
Missverständnis aufkommen zu lassen: Kritik und Kontrolle im Journalismus sind
erwünscht; der Verrohung der Sitten muss begegnet werden.
- These 6: "Der bekannte Generationswechsel im Sportjournalismus setzt sich
fort - die Diskrepanz zwischen jung und alt bleibt deutlich.
Die Hüter sportlicher Werte, die Vermittler demokratischer und pädagogischer Ziele sowie
die Wahrer des Kulturverständnisses von Sport bleiben in der älteren Generation fast
allein. Die Jüngeren, formal besser Gebildeten und mit einer anderen Ausbildung
versehenen, lassen diesen "Zopf" unbeachtet links liegen - nicht alle, aber
ziemlich viele! Karriere und Unterhaltungswert, damit vielfach auch Marktwert, sind die
Leitlinien des Tuns und so manche akademische Hoffnung erstickt im praxisnahen Ambiente.
- These 7: "Der Einfluss des Fernsehens auf den Sport wird weiter zunehmen, die
Authentizität des Sports muss jedoch sichtbar bleiben!"
Internationale Sportjournalisten danach befragt, welche Institution
zukünftig den größten Einfluss auf den Sport ausüben werde, antworten zu über 90
Prozent: das Fernsehen. Nicht IOC, FIFA, UEFA oder IAAF, geschweige denn DFB und NOK, der
"heimliche Chef" im Verhandlungsring sind die Medienprofis der TV-Branche. Sie
verändern nicht nur Sportereignisse qua Anwesenheit, sondern sie inszenieren immer
perfekter. Die Kopie im Wohnzimmer ist häufig besser als das Original vor Ort.
Medien-Realität eben oder Erlebnisse aus zweiter Hand. Die Authentizität des Sports,
seine Regelhaftigkeit und vor allem seine eigene Dramaturgie müssen jedoch erhalten
bleiben, wenn Spannung, Interesse und Nachfrage gewahrt bleiben sollen. Der
"Nukleus" des Sports ist unantastbar - oder die Folgen sind kontraproduktiv, im
wahrsten Sinne des Wortes.
- These 8: "Neue Verwertungsketten und Sender-Familien sorgen für
kanalübergreifende Versorgung!"
Vorbei sind die Zeiten, da ein Ereignis auf nur einem Kanal oder zumindest
im alternierenden Modus ausgestrahlt wurden. Zukünftig gilt: ein Ereignis, in
unterschiedlichen journalistischen Stilformen, auf vielen Kanälen zu verschiedenen
Zeitpunkten! Live, als Aufzeichnung, als Filmbeitrag, als NiF oder bloß verlesener
Nachricht; im Internet oder Web-TV, ganz zu schweigen von weiteren Vertriebs- und
Verteilformen. Sport und Fußball satt - ob
im "free-TV", dem gebührenfinanzierten TV oder im Pay-TV und zukünftig
Pay-per-view. Allein die Refinanzierung überteuerter Ausstrahlungsrechte zwingt zur
Diversifikation der Ware. Wann der Sättigungsgrad beim Publikum erreicht wird, zeigt das
Tennisbeispiel. Der Fußball muss aufpassen, seine erfolgreiche Marke nicht zu
verschleudern. Wir Konsumenten werden unabhängiger, aber zahlen unseren Preis dafür! Es
werden Pakete (sorry: packages) geschnürt, Rabatte gewährt und Treueprämien vergeben.
Der Energiesektor lässt ebenso großen wie die Telekommunikation. Privatisierung und
Konkurrenz führen meist zu ähnlichen Angeboten und Verfahrensweisen, kurzum:
Konsequenzen.
- These 9: "Für viele Sportjournalisten bleibt ihre Profession eine teure
Geliebte'!"
Trotz zeitlichem Stress, Beruf ohne Sonntag, in den meisten Fällen durchschnittlicher
Bezahlung - Sportjournalisten "lieben" ihren Beruf und ihr Hobby. Hohe
individuelle Anfälligkeit für Beziehungsverluste und abweichendes Verhalten schützen
nicht vor der Selbsteinschätzung, diesen Beruf auch ein zweites Mal zu wählen und damit
sehr zufrieden zu sein. Offensichtlich ist der tägliche Umgang mit Prominenz und die
Selbstverwirklichung durch Kreativität und Phantasie Indikator genug, sich wohl zu
fühlen und weiterzumachen. Deshalb sind die "Aufsteiger des letzten Jahrzehnts"
nicht zu demotivieren, wird ihre alltägliche Last zur täglichen Lust.
- These 10: "Der Sportjournalismus und seine gesellschaftliche Relevanz werden
weiter steigen!"
Noch nie war die sportbezogene Nachfrage in Deutschland höher als 1999, noch nie zuvor
ist so viel Sport im TV gesendet worden. Immer noch gehören Sportübertragungen zur
größten Gruppe in den TOP 100 eines jeden Jahres. Die Freizeit- (Sport-) und
Informationsgesellschaft wird sicher im nächsten Jahrtausend für weitere Expansionen
sorgen. Ich plädiere dafür, ernsthaft und analog zum "technology assessment"
ein "journalism assessment" einzuführen, eine seriöse Forschung über die
Folgenabschätzung einer TV- und Medienwelt, die mehr und mehr Zeit beansprucht. Nicht
kulturkritisch oder technikpessimistisch, nein, sondern im Sinne von sozial verträglich
und individuell verantwortlich - zum Nutzen aller!
Quelle: Die Deutsche Sporthochschule in Köln
im Internet: http://www.dshs-koeln.de
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