Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?
03-APR-2006

Leserzuschriften zu einer Rezension des Buches "TERMINOLOGIE Gerätturnen"

erschienen in der Ausgabe 01 / 2006 LEON*- Turnmagazin 

 

Friedrich Ludwig Jahn – ein "Antisemit..."?


Prof. Dr. 
Jochen Bartmuß

In der Ausgabe 06/2005 des deutschen Turn-Magazins LEON* 
erschien eine Rezension von
Sandra Schmidt zur jüngsten Auflage des Buches von
Arnold/Leirich "Gerätturnen TERMINOLOGIE",...

d
ie von wenig Sachkenntnis zeugt und bei Wertungen jegliche Objektivität vermissen lässt!
Als Historiker maße ich mir nicht an, die sportfachliche Seite dieser Rezension zu beurteilen, das haben namhafte Fachkollegen der Autoren in überzeugender Weise getan
(siehe GYMforum an anderer Stelle bei www.gymmedia.de ).

Was mir als Historiker und Ehrenvorsitzendem des Friedrich-Ludwig-Jahn-Fördervereins in Freyburg/Unstrut an dieser Rezension missfällt, sind die Äußerungen der Rezensentin über Jahn.

Friedrich Ludwig Jahn – ein Mensch seiner Zeit
Stellungnahme des Ehrenvorsitzenden des Fördervereins zur Traditionspflege und Erhaltung der Friedrich-Ludwig-Jahn-Gedenkstätten, Prof. Dr. Hans-Joachim Bartmuß, zu einer Rezension im Turnmagazin Leon 06/2005:

Das große Verdienst dieses Mannes, den ich nach jahrelanger Beschäftigung mit den allen Interessierten zugänglichen Buchpublikationen und Archivmaterialien für eine historische Persönlichkeit halte, die zwar - wie die meisten Menschen - auch mancherlei "Ecken und Kanten" aufweist, der aber das große historische Verdienst, das öffentliche Turnen, das Turnen für alle in der damaligen Männergesellschaft ins Leben gerufen und dafür eine Turnsprache geschaffen zu haben, nicht abgesprochen werden kann.

Die offensichtlich aus Unwissenheit resultierende Unredlichkeit der Rezensentin im Umgang mit Friedrich Ludwig Jahn kommt am schärfsten in folgender Aussage zum Ausdruck:

"... DDR-spezifische Formulierungen wie die oben zitierte werden heute denn auch durch deutsch-nationale Klischees der Turnbewegung und Zitate des Antisemiten Jahn (der denselben Autoren 1972 nur eine Fußnote wert war) ersetzt. Auch dies ist historisch bemerkenswert ...".

Was Sandra Schmidt unter "historisch bemerkenswert" versteht, ist sicherlich nicht nur für mich  unverständlich, lässt doch gerade die eben zitierte Äußerung ihre Qualifikation sehr fragwürdig erscheinen.
Darüber hinaus aber rüttelt die Rezensentin mit dem "Antisemiten" Jahn geradezu an den Grundfesten der Traditionen des Deutschen Turner-Bundes, in dessen Satzung (§ 1) die Pflege "des von Friedrich Ludwig Jahn begründete(n) deutschen Turnens" als einer seiner Grundsätze formuliert ist.

Ich weiß nicht, welche Quellen und welche Literatur Sandra Schmidt - zumindest oberflächlich - eingesehen hat, bevor sie Jahn als Antisemiten "outete" oder ob ihr gar schon gereicht hat, dass andere, ebenso oberflächlich arbeitende "Geschichsinteressenten" unablässig Jahn als "Antisemiten" bezeichnen, aber nicht bereit bzw. mangels ausreichender Fachkenntnisse nicht in der Lage sind, sich einer wissenschaftlichen Diskussion über diese Frage zu stellen. Als langjähriger Vorsitzender des  Jahn-Fördervereins bin ich dieser Frage selbstverständlich sehr gründlich nachgegangen und habe über meine diesbezüglichen Ergebnisse öffentlich in Bremen referiert

( * - Dieser Vortrag wurde publiziert in dem Sammelband "Streifzug durch die Sportgeschichte. Festschrift zur Verabschiedung von Prof. Dr. Harald Braun, Bremen 2004, S. 135 - 160). Außerdem hat ihn der Jahn-Förderverein auf seine Homepage gestellt, so dass er dort von allen Interessierten nachgelesen werden kann. (s.u.)

JAHN und das Heute: 
... sein Ur- Ur-, Ur-Enkel "Klein-Ernie" aus Chikago

Mein Ergebnis:
Es ist durch nichts zu rechtfertigen, Jahn als Antisemiten zu bezeichnen!
Ich kann in der gebotenen Kürze meine Beweisführung nicht ausführlich darlegen. Angesichts der genannten Publikationen ist das auch nicht notwendig. Ich beschränke mich deshalb an dieser Stelle auf wesentliche „Eckpunkte“ meiner Recherchen:

1.   Als Historiker gehe ich mit dem großen französischen Geschichtstheoretiker Marc Bloch, Mitbegründer der Annales-Schule davon aus, dass die Geschichtswissenschaft die "Wissenschaft von den Menschen in der Zeit" ist und deshalb ein historisches Phänomen nicht befriedigend erklärt werden kann, "ohne dass auch die Zeit untersucht wird, in der es aufgetreten ist".

2.   In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen vorgelegt worden, die u. a. auch die Periodisierung des Antisemitismus in Deutschland zum Gegenstand haben. Unter den betreffenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ragt dabei vor allem die israelische Historikerin Shulamit Volkov, Professorin an der "School of Histories", Tel Aviv University, hervor.
Volkov stellt im Ergebnis ihrer eigenen Untersuchungen sowie die vieler anderer fest, dass bei den bisherigen Periodisierungsversuchen infolge der Ausblendung des Neuen und der Überbewertung der Kontinuitätskräfte allzu oft wichtige Fragen verstellt worden sind. Sie vertritt im Ergebnis ihrer Recherchen den von vielen Gelehrten geteilten Standpunkt, dass es deutliche Zäsuren gibt in der Stellung der Gesellschaft zur Judenfrage, dabei u. a. eine Zäsur zwischen dem deutschen Mittelalter bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts und der Zeit danach bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Diese Zäsur trennt ihren Forschungen zufolge einen "Antijudaismus" von einem Antisemitismus, der zeitspezifisch gewesen ist und "aus den besonderen Erfordernissen und Problemen dieser Ära" erwuchs, und der wiederum vom Antisemitismus der nationalsozialistisch bestimmten Gesellschaft abgesetzt werden muss.

3.   Für die "Jahnzeit", die Zeit zwischen dem ausgehenden 18. bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts, hat es danach keinen "Antisemitismus" gegeben. Deutlich erkennbar waren jedoch während dieser Zeit sowohl ein  "Antijudaismus" und ein "Philosemitismus". Im Zusammenhang mit der öffentlichen Auseinandersetzung über den Emanzipationsprozess der Juden im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts entbrannte eine erbitterte  Auseinandersetzung zwischen Vertretern beider Lager um die bürgerliche Gleichstellung der Juden. Allein im Jahre 1803 sind über 60 Schriften erschienen, die sich mit positivem oder negativem Ergebnis mit der Frage der jüdischen Emanzipation befassten. Dabei bevorzugten die Gegner der Judenemanzipation eine sehr harte Gangart. So behauptete z. B. der
hochangesehene Göttinger Orientalist und ev. Theologe J. D. Michaelis, die Juden seien "25 oder noch mehr mal lasterhafter" als andere Einwohner in deutschen Landen, und der jüdische "Nationalcharakter" sei unveränderbar. K. W. F. Grattenauer, Rechtkommissar am Berliner Kammergericht, plädierte, vom gleichen Standpunkt aus urteilend, für die Vertreibung der Juden oder ihre Rückführung in Ghettos. Selbst ein so bedeutender Gelehrter wie J. G. Fichte, der 1810 erster Rektor der Berliner Universität wurde, unter anderem schrieb: "... ihnen (den Juden) die bürgerlichen Rechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei". Derartige Argumentationen fanden viel Zustimmung, zumal das Problem  der Judenemanzipation zu dieser Zeit mit der deutschen nationalen Frage geradezu verwoben war.

4.    Jahn hat sich in seinen Arbeiten vom "Deutschen Volkstum" bis zu seinen "Neuen Runenblättern" und den "Merke zum Deutschen Volkstum" niemals in dieser aggressiven Weise über das Judentum geäußert. Seine im Grunde nur gelegentlichen, fast stereotypen Äußerungen über die Juden entbehren fast ausnahmslos dieser Aggressivität, obwohl sie auch im zeitgenössischen Diskurs über die Judenemanzipation ihre Grundlage hatten. Mit anderen Worten: Jahn nahm in seinen Schriften nur das auf - dabei jedoch eher in gemilderter Form und fast ausschließlich im nationalstaatlichen Zusammenhang -, was im gesellschaftlichen Diskurs von anderen Gelehrten und Politikern, die er z. B. im "Deutschen Volkstum" z. T. sehr ausführlich zitierte, bereits vorweggenommen war.

Im Ergebnis dieser Untersuchungen musste ich konstatieren, dass Friedrich Ludwig Jahn - in seine Zeit und ihre gesellschaftlichen Verhältnisse eingeordnet - auf gar keinen Fall als Antisemit verdächtigt werden darf!


Friedrich Ludwig JAHN

Zudem hielt er sich in der Diskussion um die Judenemanzipation auffallend zurück und übernahm niemals die in scharfe Worte gekleideten Urteile über die Juden, die in dieser Diskussion an der Tagesordnung waren. 
Zweifellos war Jahn "Antijudaist", er trat als solcher aber nicht in besonderer Weise hervor. Deshalb ist es auch nicht gerechtfertigt, ihn wegen seines Verhältnisses zu den Juden zu brandmarken. Dieses Urteil über die Haltung Jahns zu den Juden erfährt seine Bestätigung nicht zuletzt darin, dass Jahn jungen Menschen jüdischer Abstammung den Turnplatz in der Hasenheide stets offen hielt, dass sich in den Befreiungskriegen von der napoleonischen Herrschaft im preußischen Heer, sogar im Lützow'schen Freikorps, zahlreiche Juden befanden (am ersten Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig besuchten übrigens viele Christen die Synagogen und viele Juden die christlichen Kirchen), dass der Abgeordnete Jahn sich an den Diskussionen zur Judenemanzipation in der Frankfurter Nationalversammlung nicht beteiligte, 
und dass er sich während seines Aufenthalts 1848/49 in Frankfurt, von einer kurzzeitigen Krankheit heimgesucht,  von dem Frankfurter Arzt Salomon Stiebel, einem Juden, der während seines Dienstes als Feldwebel bei den "Lützowern" den Spitznamen „Bär“ erhielt, behandeln ließ.

Prof. Dr. Hans-Joachim Bartmuß
Ehrenvorsitzender des Fördervereins zur Traditionspflege und Erhaltung der Friedrich-Ludwig-Jahn- Gedenkstätten in Freyburg/Unstr.

)* - Dieser Beitrag ( - aus dem Sammelband "Streifzug durch die Sportgeschichte. Festschrift zur Verabschiedung von Prof. Dr. Harald Braun, Bremen 2004, S. 135 - 160) ist inzwischen auch auf der Homepage des Fördervereins: 
>> www.jahn-museum.de
, veröffentlicht worden.

 

>> TERMINOLOGIE Gerätturnen  von Arnold / Leirich 

 

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