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Artikel,  Ausgabe 6/99,  Dezember

VOLL DANEBEN!
Von Sandra Schmidt und Nora Schuler)

Voll daneben griff bei dieser WM nicht nur Dagmar Fehrenschild beim Jägersalto am ersten Gerät, sondern in vielfacher Hinsicht der Deutsche Turner-Bund. Hatte ersteres letzten Endes mit dem Ausgang der Weltmeisterschaft kaum etwas zu tun, könnte und sollte letzteres doch einige Konsequenzen haben.
Wahrheit oder Lüge
Zu den Fakten:Die deutschen Mädchen starteten in ihrer bestmöglichen Besetzung. Am Barren touchierte Lisa Brüggemann beim Deltschev mit der Ferse, Dagmar Fehrenschild flog beim Jäger, Yvonne Pioch beim Doppelvorwärtsabgang - das heißt ein Sturz in der Wertung. Am Balken turnten alle Mädchen durch! Am Boden landete Katrin Kewitz beim Doppelbücksalto auf allen Vieren. Am Sprung kamen Stürze von Dagmar Fehrenschild und Katja Dreyer in die Wertung, Yvonne Pioch stürzte bei beiden Sprüngen - und blieb die Streichnote. Das bedeutet, drei Stürze, also 1.5 Punkte gingen letztlich in die Mannschaftswertung ein.
Demnach war es eine bewußte Falschinformation die Teamchef Koch in der Pressekonferenz verkündete, als er von sechs Stürzen in der Wertung sprach. Doch nur so ließ sich seine Argumentation, eigentlich sei das Niveau der Turnerinnen viel besser, aufrechterhalten.
Teamchef
Voll daneben liegt damit in erster Linie der Teamchef, der noch im vergangenen Jahr verlautbaren ließ, die deutschen Turnerinnen würden sich nicht nur qualifizieren, sondern sich in Sydney an die ersten acht Teams der Welt ranturnen. Unfaßbar war denn auch der Verlauf der Pressekonferenz, in der Koch die weinenden Mädchen grob abkanzelte, und die Bundeskunstturnwartin, Ursula Koch, dem Nervenzusammenbruch nahe schien. Allein DTB-Präsident Jürgen Dieckert gab sich gut gelaunt und plauderte jovial von der so erfolgreichen wissenschaftlichen Studie über die Belastungen und Risiken des Kunstturnens. Unfaßbar ebenfalls, daß Dieter Koch offensichtlich keinen Anlaß sah, seinen Posten zur Verfügung zu stellen. Oder sollte er dies auf ausdrücklichen Wunsch des Sportdirektors nicht tun?

Den völlig enttäuschten Mädchen war das ziemlich egal und die erfahrene Pioch kommentierte, um Fassung ringend: "Wir konnten es überhaupt nicht fassen, als wir Lisas Note am Balken gesehen haben, in Deutschland wär’ das doch ein Punkt mehr gewesen!"

Kampfrichterpolitik
Voll daneben ging in jeder Hinsicht die Strategie der deutschen Kampfrichterinnen: Nachdem beim Länderkampf gegen die Niederlande im Mai deutlich wurde, dass die Ausgangswerte (OTA berichtete) international nicht konkurrenzfähig sind, wurde offenbar beschlossen, neue Ausgangswerte für dieselben Übungen zu schaffen. Bestes Beispiel ist die von Yvonne angesprochene Balkenübung Lisa Brüggemanns, die mit ihrem Programm schlichtweg überfordert ist. Erhielt sie beim legendären Länderkampf - hier wurde Weissrußland mit 1.5 Punkten geschlagen - noch 9.4 als Endnote, war dies - bei einer besseren Übung - in Tianjin der Ausgangswert!

Aufschlußreich in dieser Hinsicht auch die Reaktionen aus anderen Ländern: Von manch einem wurde die Zielsetzung eines 12. Platzes im Nachhinein als dreiste Hochstapelei empfunden. Andere fielen aus allen Wolken, als sie - ebenfalls im Nachhinein - erfuhren, Platz 12. sei das Ziel gewesen. Zu allem Unglück war in der Mannschaftsqualifikation keine deutsche Kampfrichterin im Einsatz.

Politik und Pädagogik
Voll daneben liegt letztendlich die Politik des Deutschen Turner-Bundes gegenüber seinen eigenen Aktiven. Mag die ambitionierte Zielsetzung mit Blick auf die Fördermittel intelligent oder notwendig erscheinen, erwies es sich in Tianjin nicht zum ersten Mal als fatal, den Turnerinnen (und vielleicht auch sich selbst) eingeredet zu haben, die Olympiaqualifikation sei realistisch. Anstatt die Turnerinnen zunächst mit überzogenen Anforderungen unter Druck zu setzen, wäre es für alle Beteiligten gesünder, der Realität in die Augen zu blicken. Doch bekanntlich ist niemand so blind, wie der, der sich weigert zu sehen. Dann hätte man auch sehen können, dass die Teams auf den Plätzen elf bis vierzehn ebenfalls nicht fehlerfrei geturnt haben. Und anstatt den Turnerinnen nachher die Schuld in die Schuhe zu schieben, sollte man sich besser dem pädagogisch-psychologischen Teil der Studie widmen, der zufällig als einziger noch aussteht.

Vielleicht ist es nun einfach an der Zeit zu begreifen, dass das deutsche Frauenturnen nicht zu besten Zwölf in der Welt gehört. Was ist eigentlich so schlimm daran?

(Sandra Schmidt/Nora Schuler)

(Aus OTA 6/99, Seite 9, mit freundlicher Genehmigung).

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