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(Gekürzt aus:
D E R S P I E G E L   3 9 / 2 0 0 0 )

"Wie war der Name?"

Wenn deutsche Sportler weniger Medaillen gewinnen, als die Funktionäre kalkuliert haben, sinkt die Stimmung. Was Goldmedaillen tatsächlich wert sind, zeigen die Geschichten der Olympiasieger von 1996, Wecker, Schumann und Wyludda.

. Am Tag, als Olympia seinen ersten Rausch hatte, saß Ilke Wyludda, 31, in einem elektrobetriebenen Golfwägelchen und ließ sich zur Arbeit bringen. Sie fuhr durch eine Ferienanlage, die 1000 Kilometer weit weg ist von Sydney. Das Golfwägelchen hielt vor einer großen Wiese, Ilke
Wyludda stieg aus und übte für den Tag, an dem Olympia für sie beginnt. Sie warf Diskusscheiben auf die Wiese, ein paar Stunden lang. Ilke Wyludda wollte nicht in Sydney sein, als Olympia eröffnet wurde. Nicht nur, weil es da kälter ist als in Brisbane, wo sie im Arbeitslager war. Der Aufwand schien ihr einfach zu groß. "Erst steht man stundenlang rum", sagt sie, "und dann muss man meilenweit laufen." Laufen ist ihr zu anstrengend. Sie hat Arthrose im Knie.

Ralf Schumann, 38, fächelte sich mit einem weißen Strohhut Luft ins Gesicht, als Olympia losging.
Im Innenraum des neuen, schönen Stadions hatten Hundertschaften von Helfern Korridore gebildet, durch die der Sportschütze Schumann und die anderen Athleten durchlaufen mussten. Es war wie beim Viehtrieb. Dann trat die Sängerin Vanessa Amorosi auf und sang "Heroes Live Forever".
. Andreas Wecker, 30, saß auf einem Barhocker und aß Salat, als das Fest im Gange war. Der Turner guckte auf eine große Leinwand, die im Deutschen Haus gleich neben dem Büfett aufgestellt ist. Das Deutsche Haus, eine Sammelstelle für deutsche Olympiateilnehmer mit deutschem Bier und deutscher Wurst, ist nicht mal einen Kilometer vom Stadion entfernt. Aber Andreas Wecker durfte nicht zur Party. Er hatte am nächsten Tag einen Wettkampf und deshalb Ausgangssperre.

Was man von Menschen wie Wecker in Sydney erwarten kann, war wenige Stunden vorher zu erfahren, als das Deutsche Haus öffnete. Rolf Ebeling vom Deutschen Sportbund, als
"Leistungssportkoordinator" von Amts wegen zuständig für das Zählen von Medaillen, sagte: "Wir hoffen, schon in den ersten Tagen die ersten Medaillen gewonnen zu haben."
Wir?
Rolf Ebeling hatte keine guten ersten Tage in Sydney. Jeden Tag klaffte ein fieses dickes Loch zwischen dem, was nach der Hochrechnung sein sollte und dem, was wirklich war: eindeutig zu
wenige Medaillen. Die "Bild"-Zeitung, die ihre Titelseite gern schwarz-rot-gold flaggt, maulte jedenfalls: "Gold kann man nicht kaufen." Vor vier Jahren war es genauso. Auch in Atlanta sollte alles ganz fix gehen. Es dauerte und dauerte, und am Ende wurde es doch noch gut.
Von denen, die damals auf den Punkt funktionierten, sind in Sydney Ilke Wyludda, Ralf Schumann und Andreas Wecker wieder dabei. In Atlanta gewannen sie Goldmedaillen. Als sie ins Deutsche Haus kamen, machten die Funktionäre fröhliche Gesichter. Und Rolf Ebeling machte neue Striche auf seiner Liste.
Und dann? War Olympia vorbei und Ilke Wyludda, Ralf Schumann und Andreas Wecker so unwichtig wie in der Zeit, als sie noch nicht bei Olympia gewonnen hatten. Ihre Goldmedaillen hatten dafür gesorgt, dass der Sport in Deutschland weiter Geld vom Staat bekam und dass Leute wie Rolf Ebeling ihren Job behalten konnten.
Vier Jahre lang hat es Deutschland nicht interessiert, ob die Diskuswerferin Ilke Wyludda oder der Schütze Ralf Schumann oder der Turner Andreas Wecker gewinnen oder verlieren. Sie haben
trotzdem genauso weitergemacht wie in der Zeit, als sie noch nicht Olympiasieger waren. Wyludda hat geworfen, Schumann geschossen, Wecker geturnt. Jeden Tag.
Und wenn man sie fragt, warum sie das gemacht haben, sagen sie:
Weil wieder Olympia ist.

"Gold-Recke Wecker: Ab heute wieder Sex." Aus der "Bild"-Zeitung vom 1. August 1996

Als Andreas Wecker noch in der DDR lebte, gewann er bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul eine Silbermedaille. Danach bekam er von Erich Honecker den Verdienstorden. Acht Jahre später turnte er für das vereinigte Deutschland und gewann bei den Olympischen Spielen in Atlanta die Goldmedaille am Reck. Danach wollte er von Werner Köster Werbeverträge.
Köster war sein Manager. Und Köster hatte schon Franziska van Almsick zur Heldin der Werbung gemacht. "Ich habe meinen Job getan, jetzt ist mein Manager dran", sagte Wecker.
Franziska van Almsick warb für Milka und Opel und bekam dafür Millionen. Andreas Wecker trat zum Beispiel auf, wenn irgendwo ein Karstadt eröffnet wurde. Sein Tarif liegt zwischen vier- und sechstausend Mark pro Termin.

"Jetzt wird Wecker so bekannt wie Becker", sagte er nach dem Olympiasieg. Weckers Problem ist, dass er dazu neigt, die eigene Bedeutung zu überschätzen. Er ist weder Franzi noch Boris, noch
Schumi, noch Henry. Wecker war nie zur richtigen Zeit im richtigen Sport.
Er ist Turner. Und Turnen klingt nach kurzer Hose und feuchten Achseln. Turnen ist so deutsch wie die Loreley. Und bisher hatte keiner der Spaßgesellschafts-Strategen eine Idee, was man aus
Turnen noch so alles machen könnte.
Ein Jahr nach seinem Olympiasieg stürzte Andreas Wecker beim Training vom Reck. Danach gab er seinen Rücktritt bekannt. Er sagte, er habe Angst um sein Leben; aber das stimmte nicht, es sollte nur scharf klingen.
In Wirklichkeit hatte er die Schnauze voll, weil alles auf der Stelle trat. Er selbst, der Sport, die Einkünfte. Er turnte beim berühmten "Cirque du Soleil" in Kanada vor. Aber weil der Zirkus zu wenig zahlen wollte, wurde Wecker wieder Sportler. Er wollte jetzt der erste deutsche Turner sein, der viermal bei Olympia war. Ums Management kümmert sich jetzt die Freundin. Antje Hertel, eine ehemalige Tänzerin im Berliner Friedrichstadtpalast, sagt, sie habe ein Händchen für so was. Wenn man die Dinge richtig anpacke, sagt sie, sei "brutal viel rauszuholen". Frau Hertel ist zu einer Werbeagentur gegangen und hat ein schickes Dossier fertigen lassen.

"Andreas Wecker ­ der Vorturner", steht vorne drauf. Es ist hauptsächlich goldfarben und
aufwendig produziert. Andreas Wecker musste 100 Mark pro Stück zahlen.  Wer darin liest, erfährt, dass man den Turner Wecker mieten kann wie eine Teppichreinigungsmaschine. "Kostenpauschale zzgl. Reisekosten und Unterbringung auf Anfrage". Barren und Musik bringt er selbst mit.

Bevor er losfuhr nach Sydney, sagte Andreas Wecker, er werde ein paar von diesen Dossiers mitnehmen. "Um Sponsoren zu akquirieren". Sydney, meinte er, sei die Gelegenheit. Und Antje Hertel sagte, entscheidend für die Zukunft sei, ob er in Sydney eine Medaille
gewinne.
Auf der Anzeigetafel steht: Nr. 138, Wecker A., GER. Andreas Wecker tritt mit fünf anderen Turnern im Mannschaftswettbewerb an, sie tragen rote Hosen und gelbe Trikots, und Wecker hat ein mieses Gefühl. Seit zwei Tagen schmerzt die rechte Schulter, wahrscheinlich ist ein Muskel kaputt. Er hat sich spritzen lassen. Der Mann, der nur 1,63 Meter groß ist und einen Bizeps hat, der aussieht wie ausgestopft, zieht die Gummilatschen aus und springt auf ein Podium, auf dem das Seitpferd steht. Er reibt Magnesia in seine Hände und dreht sich zu einem Tisch, an dem vier Männer in grauen Anzügen sitzen. Er hebt den Arm und beginnt mit seinem Vortrag. Und immer, wenn etwas nicht korrekt ist, schreiben die vier Männer im Anzug etwas auf ihre Zettel.
Als alles vorbei ist, ist Deutschland ausgeschieden. Wecker war nicht besonders gut, aber die Kollegen waren nicht besser.
Am Morgen nach dem Desaster ist Mannschaftssitzung. Sergej Pfeifer, ein Kollege aus der Mannschaft, sagt, Wecker sei ein Egoist. Er habe nur an seine vierten Olympischen Spiele gedacht. Wecker verlässt die Sitzung und zeigt Pfeifer den ausgestreckten Mittelfinger.

In der "Bild"-Zeitung steht: "Wecker zeigte Stinkefinger! 1. Olympia-Skandal."

Von den goldfarbenen Dossiers hat Andreas Wecker fünf Exemplare nach Sydney mitgenommen. Sie liegen im Koffer, "damit sie nicht knicken". Er hat noch alle fünf. Wo in Sydney die Sponsoren sind? "Irgendwie hab ich noch keinen so richtig getroffen."

(Autor: MATTHIAS GEYER, Auszug DER SPIEGEL, 39/2000)

Aktuelle Diskussion nach dem deutschen Turn-Disaster bei Olympia und
vor dem Deutschen Turntag Leipzig...:

Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?
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06-Sep-2000