Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?
16-SEP-02

Konzentration von Kräften, Mitteln und Athleten
- Mittel zur Leistungssteigerung im Spitzensport -
Widerspruch oder sinnvolle Maßnahmen...?

(- von Gisela Bader und Eckhard Herholz)

 


Eckhard Herholz

Nicht zum ersten Mal ist wieder unnötiger Staub im Leistungssportlager des Turnsports aufgewirbelt worden. Und immer geschieht das, wenn dringend nötige Veränderungen anstehen. Natürlich haben da die Fragen nach Inhalten, Strukturen, Vorgaben, Zielen, Leistungsmerkmalen und Ergebnissen gemessen am Weltniveau  Priorität -  aber nicht um jeden Preis! Leider wird im Deutschen Turner-Bund dabei allzu oft gegen die Qualitätsmerkmale der Debatten verstoßen, allzu oft werden menschliche Komponenten missachtet.
Ohne Frage muss im humanen Leistungssports immer noch der Athlet im Mittelpunkt stehen - auch und gerade bei allerhärtesten Forderungen.
Fragwürdig jedoch werden Funktionäre und Methoden, die gegen diese Grundregel verstoßen oder aber nicht über das nötige Fingerspitzengefühl im Umgang mit jungen Menschen verfügen. Eine hochanspruchsvolle Sportart wie das Gerätturnen im Grenzbereich menschlicher Leistungsfähigkeit bedarf keiner "Elefanten im Porzellanladen" -  "Holzhacker können nachweislich keine Klaviere bauen". Wer tagtäglich unter unendlichen Mühen und mit der Besonderheit seines hochsensiblen Körpers trainiert hat das Recht, auf ebenso hoch-qualifizierteste Weise angesprochen und behandelt zu werden. Das trifft zu im olympischen Alltag des Leistungssports in Aufbau - und Profilierungsphasen ebenso, wie nach Beendigung von Karrieren. Wer mit solchen (mehr oder weniger) leistungsbereiten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen arbeitet hat die Pflicht zu allerhöchster moralischer, fachlicher Qualität seiner Arbeit - ansonsten muss er zuerst, und nicht der Athlet, in Frage gestellt werden.
Somit sind nicht die nötige Konzentrierung von Leistung und das dazu erforderliche Bedingungsgefüge der Streitpunkt aktueller Diskussionen, sondern die Fragwürdigkeit von handelnden Personen, deren menschlichen, Persönlichkeits-  und fachlichen Merkmalen, ihr Status und ihre Machtbefugnisse bzw. der Ausschluss jeglichen Missbrauchs!
Erst nach Klärung solcher Grundfragen mit Voraussetzungscharakter sollte man die sachlichen Kriterien erörtern, was richtig und was falsch ist, um das Mutterland des Turnsports wieder in den Bereich der Weltspitze zurückzuführen....!

Eckhard Herholz
- Turnjournalist / TV-Reporter -
- ehemals langjähriger verantwortlicher Turntrainer im Nachwuchsleistungssport -

.. letzte Meldung dazu:
Das Präsidium des Niedersächsischen Turnerbundes (NTB) hat beim Deutschen Turner-Bund bzw. dessen höchstem Gremium, dem Deutschen Turntag (November in
Braunschweig) 
den Antrag gestellt, dem für Leistungssport zuständigen DTB-Vizepräsidenten Eduard Friedrich wegen dessen Verhaltens und seiner repressiven Art des Umgangs mit jungen Sportlern und Trainern die Missbilligung auszusprechen und ihn zum Rücktritt aufzufordern. (gymmedia)
Betreffs Konzentration der Athenvorbereitung und überhaupt...:
...ist es richtig, .....  Es ist falsch ....
..... die Kräfte zu bündeln, um die Leistung zu steigern!
Die besten Athleten müssen täglich in gesunder Konkurrenz stehen, um mit den besten Trainern die Leistung optimal steigern zu können. Das Umfeld muss optimal gestaltet sein. Schule, Beruf, pädagogische, psychologische, biomechanische und medizinische Betreuung sowie die Gewährung einer finanziellen sozial ausgewogenen Absicherung muss gewährleistet sein.
.... die besten Athleten ein Jahr vor der Olympiaqualifikation und zwei Jahre vor den Olympischen Spielen mit irgendwelchen Gewaltakten (Kaderausschluss, Sanktionen, Drohungen...) aus ihrem gewohnten Umfeld zu ziehen.
Der mündige Athlet muss in erster Linie voll mitziehen und darf nicht nur halbherzig einer Vorgabe folgen oder einem Druck nachgeben.
.... die Athleten zu längeren Vorbereitungslehrgängen unter Optimalbedingungen zusammenzuziehen,
natürlich unter Berücksichtigung ihrer individuellen sozialen, familiären Situation.

Der Verband hat diese festzustellen, verbunden mit der Verpflichtung, das gemeinsame Training der besten Athleten sicherzustellen.
Der Athlet muss die Möglichkeit haben, dort zu trainieren, wo er meint, die besten Bedingungen zu haben, die sich an der Weltspitze  zu orientierende Leistung zu erbringen. 
... die Athleten, vom Kader auszuschließen, wenn sie nicht am vorgeschriebenen Zentrum trainieren.

Die Kaderkriterien und Konzentrationsbedingungen sind langfristig im Vorhinein und vor jeglicher Diskussion festzulegen, das Bedingungsgefüge mit allen Verantwortlichen zu diskutieren und dann durch Präsidiumsbeschluss zu fundieren. Erst danach hätte ein Konzentrationsmodell zur Leistungssteigerung bis zum Niveau der Weltspitze den Athleten vorgestellt werden sollen - bis hin zur Flexibilität individuell nötiger Modifizierungen.
....die zwei stärksten Zentren schrittweise zu BUNDESLEISTUNGSZENTREN zu machen.

Die Bundesleistungszentren sollten dort sein, wo die zukunftsgerichtete Arbeit mit der Zielrichtung Weltspitze möglich ist ( s.o. optimale Trainingsbedingungen und Umfeld).
Es muss gewährleistet sein, dass aus dem unmittelbaren Umfeld des Bundesleistungszentrums der Kadernachwuchs rekrutiert werden kann. Damit ist eine optimale Ausnutzung der zur Leistungsoptimierung geschaffenen Infrastruktur und der zur Verfügung gestellten Mittel gewährleistet. Darüber hinaus fördert die Vorbildfunktion der besten Athleten  den Nachwuchs.
... damit die in Deutschland bestehende Struktur (im Männerbereich sechs Bundesstützpunkte) in irgend einer Weise in Frage zu stellen oder zu gefährden.

Dieser Angst des "schleichenden Abbaus" eines Status oder einer Schwächung der- im Gegenteil nötigen Verstärkung der Nachwuchsarbeit in den bestehenden Zentren - müssen parallel sportpolitische Absicherungen entgegengestellt werden, die den Stützpunkten in den Ländern auch über den Zeitpunkt 2004 hinaus die Sicherheit von Kontinuität in den Bereichen Nachwuchs, Status, Trainerplanstellen und Vereinszugehörigkeit der delegierten A/B-Kader garantieren.
G.B. / E.H.
 
 Blick über den Zaun:


Gisela Bader

Unsere GYMmedia-Mitarbeiterin Gisela Bader, (Beauftragte des Deutsch-Französischen Jugendwerkes, verantwortlich für Leistungssport in der Deutsche Turnerjugend)  blickt einmal über den Zaun zu den Nachbarn, den Franzosen, wie die mit dem Problem umgehen:
Vor 10 Jahren reduzierte der Französische Turnverband seine nationalen Zentren auf drei, in denen  die besten Athleten trainierten 
-
5 Jahre später wurde Frankreich Europameister!

Die Voraussetzungen waren jedoch völlig andere als in Deutschland:

>> Seit 1985 besteht dort ein durchgängiges Fördersystem, nach dem sich eine Delegation des französischen Sportministeriums nach einer DDR-Reise die für sie relevanten Merkmale des damaligen Fördersystems angeschaut, für das westliche Gesellschaftssystem modifiziert und schrittweise angewandt hatten:
Die Nachwuchsturner werden in ein Nachwuchszentrum berufen (Qualifikation durch Testwettkämpfe), von dort werden die besten Junioren in den sogenannten "Pôle France" - vergleichbar mit Bundesleistungszentrum - zu gemeinsamen Lehrgängen zusammen gerufen. Anschließend wechseln diese Athleten unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Situation in solch einen Pôle France - aber immer nach dem Motto: „Wer will, der kann“!
Diese Athleten gehen keinem Beruf nach. Allerdings bekommen sie eine monatliche Zuwendung, die es ihnen erlaubt, ein in unserer Gesellschaft adäquates Leben zu führen. Darüber hinaus verbessern individuelle Sponsorenverträge den Lebensunterhalt.
Oftmals nehmen die Athleten frühzeitig ein Fernstudium, auch für den schulischen Abschluss, auf, um eine entsprechende Berufsqualifikation neben ihrem „ Beruf“ Hochleistungssportler erwerben zu können. Allerdings gibt es auch diejenigen, die nichts gelernt haben außer „Hochleistungssportler“ zu sein. In vielen Fällen jedoch wird das „Professorat du Sport“, vergleichbar mit unserem Trainerdiplom angestrebt, mit der Aussicht bei entsprechender Eignung auf eine Stelle in der Turnstruktur. Das Diplom wird im INSEP Paris (Nationales Institut für Spitzensport und Leibeserziehung) durch Fernstudium während der sportlichen Karriere und Prüfungssemestern nach der sportlichen Karriere absolviert. Die Athleten die dort trainieren studieren nach einem Stundenplan, der sich nach dem Training richtet.
Die Spitzenathleten ( WM-Kader, OS-Kader) der 3 Pôle France werden zu zentralen Lehrgängen mehrmals, auch zu längeren zentralen Lehrgängen (z. B. zur letzten Olympiavorbereitung ein Jahr lang !!) zusammengezogen, allerdings mit der oben beschriebenen Absicherung. Die Karriere der einzelnen Sportler wird langfristig vorbereitet, begleitet, kontrolliert und korrigiert durch den Sportdirektor des Französischen Turnverbandes und seinen Direktor für das Kunstturnen Männer.
Da der Turner in einer langfristigen Karriereplanung steht, ist nicht nur er persönlich durch ständige Betreuung und Beratung darauf vorbereitet wie der Weg zur Höchstleistung nach Vorstellungen des Verbandes auszusehen hat, sondern auch das gesamte Umfeld:

Die Schule wird - wenn möglich ab der Grundschule - an das Training angepasst
(zwei tägliche Trainingseinheiten).
Das Training erfolgt im Verein, Departementstützpunkt oder / und im  Nachwuchsstützpunkt. Vor dem Eintritt in den Nachwuchsstützpunkt werden Eltern, Lehrer Kinder genauestens über den Weg zum Spitzensport informiert und eine Laufbahnberatung vorgenommen. Psychologische Tests sollen sicherstellen, welche Einstellung Athlet und Umfeld haben, um den steinigen Weg bis zur Goldmedaille zu gehen zu können.
Jeder Athlet hat eine Probezeit von 3 Monaten, um sich zu prüfen, wie er mit den veränderten Bedingungen leben kann. So weiß jeder Athlet genau, wohin bei steigender Leistung sein Weg geht, in welchem Zentrum, bei welchen Trainern, und unter welchen Bedingungen er trainieren wird. Die Nachwuchszentren sind quasi flächendeckend auf die Regionen  Frankreichs verteilt. Der Weg in die nationalen Zentren vorgegeben.

Und dennoch gibt es auch überall individuelle Lösungen!! 


Eric Poujade (FRA)

Das beste Beispiel Eric Poujade, ein steter Punktesammler im Weltcup am Pauschenpferd. Er ging ab dem 16. Lebensjahr seinen eigenen Weg , mit seinem Trainer. Auch wenn der Trainer in seinem Heimatzentrum blieb, so fragte er ihn immer um Rat  Er organisierte sein Training, sein Leben alleine und drang trotzdem vor bis in die Weltspitze.

Der französische Sportdirektor (selbst ehemals Leistungssportler, danach Sportstudium mit Schwerpunkt Leistungssport Turnen) meint dazu „ Außerhalb unserer Struktur dürfte eigentlich niemand in die Nationalmannschaft kommen. Sollte es doch jemand gelingen müssen wir unsere Struktur überprüfen, denn dann stimmt sie irgendwo nicht.“  

Die Praxis beweist das Gegenteil: Im Kunstturnen Frauen gelingt Pasquet der Sprung in die WM-Mannschaft Frankreichs. Sie trainiert in einem Nachwuchszentrum in Dijon bei Eric Boucharin - bekannter Nachwuchstrainer aus Barcelona aus dem "Zulieferzentrum" für Carballo in Madrid. Hingegen ist Goreac (ehemals Rumänien) dieser Schritt  nie gelungen.
Dennoch, das Prinzip ist durchgängig, transparent, verspricht die erwartete Leistung und sichert den Athleten ab. Auch wenn es geschlossen scheint, so zeigt es immer die menschliche Komponente, worum sich 24 Stunden. am Tag und 365 Tage im Jahr der Sportdirektor mit seinem professionellen Team bemüht. Er reist von Zentrum zu Zentrum, spricht persönlich mit jedem Athleten und schafft so die große „Familie“ der 4 olympischen Sportarten im französischen Turnverband.

Diese Struktur ist geprägt von reiner Hauptamtlichkeit, vom Sportdirektor bis zum Trainer.


Zu jedem Stützpunkt gehört ein Verein, entweder aus dem Stützpunkt erwachsen ( Beispiel Lyon) oder schon vorher vorhanden, der den Nachwuchs aus den eigenen Reihen gewährleistet  und eine optimale Ausnutzung der bereitgestellten Mittel sichert. Zudem wird eng mit den umliegenden Vereinen kooperiert, um die Nachwuchsrekrutierung zu sichern. Die Vorbildfunktion der Topathleten für den Nachwuchs und deren Trainer ist ein weiterer Faktor in dem eng gewobenen Netz zur Leistungsentwicklung. Die Spitzenathleten trainieren nicht alleine, sondern sind eingebettet in die Vielzahl der Gerätturner von niedrigen bis hohem Niveau ( z.B. Pôle France Antibes - dort ist die Halle immer voll !!)

Dieser französische Weg scheint ein gangbarer zu sein in einer freiheitlichen Gesellschaft.  

Gisela Bader
Beauftragte des Deutsch-Französischen Jugendwerkes
(Leistungssport/Deutsche Turnerjugend)


Nachbemerkungen:
In einer veränderten Struktur muss mit klaren Zielvorgaben und langfristig gearbeitet werden, damit Entscheidungswege frühzeitig aufgezeigt werden, in denen Trainer wie Athleten den Weg des Verbandes gehen können . Aber,......?
Das "Aber" gibt es auch in Frankreich, denn dort sind ebenfalls Menschen am Werke. Maßgeblich ist jedoch, dass diese Menschen ein gemeinsames Ziel haben und sich verpflichten mit Professionalität und Qualitätssicherung gemeinsam daran zu arbeiten.
Dazu gehört natürlich auch die turnfachliche und menschliche Qualifikation der hauptamtlichen Führung.
> Übertragen auf ein deutsches Fördersystem kann das  regionale Interesse nur sein, Nachwuchs für die nationalen Zentren heranzubilden.
> Die Anzahl der Bundeskaderathleten aus den Vereinen des Landes bestimmen in der Menge die Höhe der Fördersumme im Land, d.h. je mehr Bundeskaderathleten durch die regionale Förderung, den/die Landestrainer/ Vereinstrainer herangebildet werden, umso mehr Geld fließt in das Land zur weiteren Nachwuchsförderung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Fördersumme eines Landes sich nach der Anzahl in seinem Zentrum trainierenden Bundeskader richtet, sondern nach den aus seinen Vereinen kommenden, denn dann würde das Land Bundesaufgaben mit Landesmitteln wahrnehmen. Das kann nicht Sinn einer Bundesförderstruktur sein. Die Bundestrainer müssen ihre Bundesaufgabe mit Bundesmitteln erfüllen, d.h. die Spitzenathleten Deutschlands an die Weltspitze heranführen. Sinnvoll ist es daher die Konzentration der Athleten in wenige Stützpunkte.
>> Diese sollten dorthin gelegt werden, wo bereits die besten Athleten trainieren, die regionale und Vereinstruktur die Nachwuchsbildung garantiert und beide, Land und Bund, Hand in Hand arbeiten können. Bei der Konzentration auf zwei Zentren können die übrigen Landesleistungszentren in vollem Umfang ihrer Nachwuchshinführung an die nationale Spitze nachkommen.
>> So sollte sich der DTB auch im Klaren sein, welche Verantwortung er mit einer solchen Struktur übernimmt. Die Umsetzung kann deshalb nicht von „jetzt auf eben“ oder mit der „Brechstange“ geschehen. Sie muss umsichtig , langfristig unter Berücksichtigung bestehender Strukturen , mit klarer Zielsetzung , konsequenter Durchführung und optimaler Ausnutzung aller zur Verfügung stehenden Mittel erfolgen.
Siehe auch das Beispiel:
„Die Franzosen änderten die Struktur - fünf (!) Jahre später waren sie Europameister“!
Aber nicht allein die Struktur macht die Weltmeister, sondern vor allen Dingen die Menschen, die verantwortungsvoll und umsichtig  darin handeln.
Alle im Spitzensport Tätigen stehen in Beziehung zu jungen Menschen, deren sportliche Karrieren sie  zu ermöglichen haben und nicht umgekehrt... !
  G.B.
 

Aktuelle Diskussion nach dem deutschen Turn-Desaster bei Olympia, 
nach der Turn-WM 2001 sowie nach den "Konzentrationsversuchen" des DTB in der aktuellen Athenvorbereitung 2004....:

Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?

Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?
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