Zu: Kommentar
"Raub der Jugend", ND vom 12. 11. 99 Sehr
geehrter Kollege Müller,
Thema verfehlt und alte Klischees bedient, musste ich leider
feststellen. Schade, dass das ND sich solch eines Kommentars nicht enthalten konnte.
Warum "Raub der Jugend", wenn sich Kinder gemeinsam mit ihren Eltern für eine
leistungssportliche Laufbahn im Turnen entscheiden? Weil das Training zeitaufwendig ist
und die Kinder sicher nicht so viel Zeit wie ihre Alterskameraden für andere
Freizeitbeschäftigungen haben. Das trifft allerdings auch auf Nachwuchssportler/innen
anderer Sportarten oder junge Musiker zu, die einmal Großes erreichen wollen.
Oder wollen Sie auf "Raub der Gesundheit" hinaus, was der norwegischen
Begründung wohl näher käme. Sicher ist die physische Belastung junger Turnerinnen (und
Turner!) sehr hoch, doch mit diesem Problem setzt sich der Deutsche Turner-Bund seit zehn
Jahren intensiv auseinander und hat u. a. Veränderungen im internationalen Regelwerk,
Verbesserungen der Geräteausstattung und umfassendere medizinische Betreuung erwirkt.
Doch selbst unter solchen Turnerinnen oder Turner, die aufgrund von sportbedingten
Verletzungen ihre Laufbahn beenden mußten, habe ich noch niemanden kennengelernt, der
seine Laufbahn als Leistungssportler als "Raub der Jugend" bezeichnen würde.
Und ich kenne viele, gehöre selbst zu ihnen.
Ich akzeptiere, dass Sie das Kunstturnen, die extremste Form des Gerätturnens, nicht
besonders mögen. Aber warum soll es "widernatürlich" sein, wenn sich
14/15jährige Turnerinnen sportliche Fertigkeiten antrainiert haben, die sich der
Vorstellungswelt eines erwachsenen Nichtturners entziehen? Und warum bringen Sie nur das
Beispiel der Mädchen und nicht das eines Nachwuchsturners, der zweifellos mit ähnlichen
zirzensischen Kunststücken aufwarten kann?
Ist es für Sie auch widernatürlich, wenn junge Sportler/innen vom Zehn-Meter-Turm ins
Wasser springen, von Sprungschanzen fliegen, auf dem Eis Pirouetten drehen?
Technisch-kompositorische Sportarten unterliegen nun mal anderen Gesetzmäßigkeiten als
das relativ simple Fußballspiel, bei dem übrigens die Verletzungsgefahr höher ist als
beim Turnen.
Ob Sie die Brüggemann-Studie für glaubwürdig halten oder nicht, ist
ihre Ansicht. Aber Herrn Riegert der Demagogie zu zeihen, ist ebenso demagogisch. Denn er
hat recht: Bewegungsarmut unter Kindern ist ein gravierendes Problem, und die
Landesturnverbände in Deutschland, die zigtausend Turnvereine und abteilungen haben
es sich verstärkt zur Aufgabe gemacht, vermittels des Kinderturnens diesem Problem zu
begegnen.
Diese Form des Kinderturnens als sportartübergreifender Grundlagenausbildung würde
sicher Ihren Intentionen entsprechen. Aber es ist schlicht unfair, diejenigen an der
Spitze der Turnpyramide zu diskreditieren, die sich für den Leistungssport entschieden
haben. Was ja nicht ausschließt, dass Missstände in diesem Bereich kritisiert werden
können. Das Recht, Spitzensport zu betreiben, ist Teil der sportlichen Kultur dieses
Landes, und die Entbehrungen werden (zumeist) freiwillig auf sich genommen. Ich kenne
viele Eltern von Turnerinnen, die nie Druck auf ihre Kinder ausgeübt haben (die
Gnauck-Eltern gehören dazu). Ich kenne auch Turnerinnen, die aufhörten, weil es ihnen
zuviel wurde. Die Entscheidung soll man ruhig den Betreffenden oder Betroffenen
überlassen.
Und noch ein Wort zu Ihrer Trainer-, Funktionärs- und Ärzteschelte, die
als Argument ebenso ein Schuss in den Ofen ist. Zumal die Lebensexistenz von Ärzten, die
zumindest im Turnen nebenberuflich die Athleten betreuen, keineswegs vom Erfolg der
Athleten abhängt. Anders bei Trainern und Funktionären doch das ist bei allen
Spitzensportarten so und keinesfalls ein "Hauptproblem" im Leistungsturnen.
Nicht zuletzt wäre eine etwas kritischere Sicht auf die norwegische Initiative angebracht
gewesen. Ein Alterslimit von 17 bei Olympia bedeutet doch in vielen Sportarten, trotzdem
spätestens im Alter von acht oder neun Jahren mit regelmäßigem Training zu beginnen.
Und selbst dort im Sport, wo die Norweger international führend sind, wie in den
nordischen Skidisziplinen oder im Eisschnelllauf, muß im Nachwuchsbereich viel trainiert
werden. Die Erfolge von Lillehammer basierten nicht auf einem spiel- und spaßbetonten
Sportsystem, bei dem "Kinder in glücklicher Unwissenheit" lebten, wer der Beste
ist.
Nehmen Sie mir das offene Wort nicht übel. Als Pressereferent des Schwäbischen
Turnerbundes lade ich Sie gern zum Internationalen DTB-Pokal/Weltcup vom 26. 28.
November nach Stuttgart ein, wo Sie sich vor Orte wahlweise vom "Raub der
Jugend" bei den internationalen Stars oder von einer wissenschaftlich fundierten,
"spaßbetonten" Kinderturnausbildung in den Kindersportschulen und Talentschulen
des Schwäbischen Turnerbundes überzeugen können.
Mit kollegialen Grüßen
Andreas Götze,
Ostfildern
Leserzuschrift
Betr:"Raub der Jugend", von M.Müller vom 12.11.99
Wenn ich von einer Sache nichts vestehe, mache ich mich kundig oder halte ganz die klappe.
Oder ich bediene mich einfach einem Boulevardjournalismus und schustere etwas
"Sensationelles" zusammen.
....Wenn Herr Müller langjährig gepflegte Yellow press Klischeès über
"kinderschändendes Kunstturnen" in dieser Zeitung nachplappert, um
saxchkompetentenSportpolitikern anderer Parteien demagogisches Verhalten zu unterstellen,
dann soll ihm hiermit aus den eigenen Reihen entschieden die rote Karte gezeigt werden.
Der sportpo9litische Sprecher der CDU-Fraktion im Bundestag hat recht, wenn er sagt, ein
Hauptproblem in diesem Lande ist nicht das Leistunsturnen, sondern die gesellschaftlich
vorprogrammierte Bewegungsarmut für unsere Kinder und Jugendlichen, beginnend im
Vorschulbereich, über einen praktizierten Schulsport, der vom Weltgipfel des Schulsports
vor wenigen Tagen in Berlin in der Kategorie "Entwicklungsland" blossgestellt
wurde, bis hin zu ungenügendem Bewegungsangebot in allen Altersbereichen, insbesondere in
"Neufünfland."
Auf diesem Politikfeld liegt auch einer der Hauptpunkte für Täve (Gustav Adolf) Schur (MdB,
Sportpol. Sprecher der PDS-Fraktion. Anm. Red) im Sportausschuss des Deutschen
Bundestages und den kann man sich nicht durch unqualifiziertes ideologisch gefärbtes
" Holzhämmern" zerschlagen lassen.
Persönlich noch neben der roten Karte eine symbolische Ohrfeige für Herrn Müller. Dazu
ermächtige ich mich im Namen der über 10.000 Leistungs- turnerinnen und -turner, ihren
Eltern, Verwandten, Freunden, Trainern, Ärzten, Übungsleitern, Funktionären,
Kampfrichtern und weiteren 4 Millionen Mitgliedern des Deutschen Turner-Bundes. Wir lassen
uns nicht durch Böswillikeit oder Dummheit unser verantwortungsvolles Engagement für
unsere Sportart in den Dreck treten.Klaus Köste
Turnolympiasieger 1972
(Pers. MA des MdM G.A. Schur, Sportpolitischer Sprecher der PDS-Fraktion im Deutschen
Bundestag) |
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