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NEUES DEUTSCHLAND, vom 12.11.99
- dazu veröffentlicht NEUES DEUTSCHLAND unter der Rubrik EINWURF der gleichen Ausgabe folgenden Artikel seines verantwortlichen Sport-Redakteurs
"KEINE KINDER AUF's SIEGERPODEST"
- von Andreas Knudsen
Der Norwegische Sportverband hat sich offiziell an das Internationale Olympische Komitee gewandt, um eine untere Altersgrenze von 17 Jahren für Olympiateilnehmer durchzusetzen. Es widerspricht beispielsweise den ethischen Prinzipien der Norweger, dass blutjunge Turnerinnen auf dem olympischen Altar ihre Kindheit opfern, um dann als 16-Jährige ausgebrannt zurückzutreten, heisst es.
Generalsekretär Ivar Egberg erläuterte die prinzipielle Haltung des Norwegischen Sportverbandes (NIF) zu diesem Problem so: Unser Schritt ist ein wichtiges Signal an den norwegischen und internationalen Sport. Wir fordern unsere Mitgliedsverbände auf, sich unserer Haltung anzuschliessen, selbst wenn das IOC unserem Vorschlag nicht zustimmt. Der norwegische Vorschlag wird auf der IOC-Session am 11. und 12. Dezember behandelt.

Der NIF hat bereits seit langem seine eigenen Regeln für Kindersport. Das wichtigste Anliegen ist es dabei, dass Kinder ihre Kräfte in verschiedenen Disziplinen erproben können, ohne bzw. bevor sie sich auf eine Sportart festlegen. Allseitigkeit und Spass am Sport sollen die Jugendjahre dominieren und nicht Leistungsstress.
Diese Haltung bringt den Norwegern eine Reihe von Nachteilen in den internationalen Wettbewerben, insbesondere in den technisch komplizierten Disziplinen. Norwegische Sportler beginnen sich auf diese in einem solchen Alter zu spezialisieren, in dem die internationalen Stars bereits an Rücktritt denken. Die Ernte von Olympia- und WM-Gold wiege allerdings verlorene Kindheit und Jugend, Kontaktarmut, die sich auf Grund der Trainingsbelastung zu gleichaltrigen Freunden ausserhalb des Sports einstellt, nicht auf, heisst es.
Rune Titlestad, verantwortlich für Kindersport im NIF meinte zu diesem Nachteil lakonisch: Entweder lassen wir es sein, in solchen Disziplinen anzutreten oder wir müssen versuchen, die anderen Nationen von unserer Haltung zu überzeugen. Er illustrierte seine Überzeugung mit dem Hinweis auf eine Einladung, die der NIF kürzlich beispielsweise zur Golf-WM für Kinder bis zu 12 Jahren erhielt. So gehe das nicht in Norwegen. "Kinder sollen in glücklicher Unwissenheit leben, wer der Beste ist. Bei uns dürfen Kinder ab 10 Jahren überhaupt erst eine Wertungstabelle sehen."
Es sei normal für Kinder, so Titlestadt, dass sie miteinander wetteifern, und selbstverständlich wissen sie untereinander, wer von ihnen der oder die Beste in einer Sportart ist. Aber das ist eine Konkurrenz zu kindlichen Bedingungen, über die man nicht den Ehrgeiz der Erwachsenen stülpen sollte.
Als ein Beispiel für gelungene Wettbewerbsbedingungen, die den Spass am Sport fördern, ohne die Kindheit zu gefährden nannte Titlestadt Schülerfussball in generell siebenköpfigen Mannschaften auf kleineren Feldern. Nach anfänglichem Aufschrei, dass der Fussball damit zugrunde gerichtet würde, konnten die Verantwortlichen nun die Erfolge sehen. Kinder- und Jugendsport müsse sowohl auf wissenschaftliche als auch ethischer   Grundlage vor sich gehen. Titlestadt: "Kinder müssen beschützt werden. Manchmal eben auch vor dem Ehrgeiz der Eltern".

(Aus: NEUES DEUTSCHLAND, vom 12.11.99) .

"RAUB DER JUGEND"
- von Michael Müller:

Der Norwegische Sportverband unternimmt gerade einen Vorstoss beim IOC. Kinder sollen physisch und psychisch besser vor dem Erfolgszwang und -druck im Sport geschützt werden. Es widerspreche den ethischen Prinzipien, dass blutjunge Turnerinnen af den olympischen Altar ihre Jugend opfern. (Siehe Artikel. links)

Dass mag ein bisschen dick aufgetragen klingen. Wer allerdings in der Lage ist, sich auch nur einen Moment vorzustellen, dass es schlicht widernatürlich, bestenfalls zirzensisch ist, wenn die Kükenmädchen da ihre Wahnsinns-Salti zwischen den Holmen drehen, der dürfte das norwegische Ansinnen geradezu als normal empfinden.

Andere Länder, andere Sitten. Der Deutsche Turner-Bund präsentierte am Mittwochabend eine Studie, die die Harmlosigkeit dieses "Frauen"-Turnens nachweisen soll. Was den sportpolitischen Sprecher der Unions-Bundestagsfraktion, Riegert, denn auch zum Aufatmen veranlasste: "DasHauptproblem in Deutschland ist nicht Leistungsturnen, sondern Bewegungsarmut."

Der Mann hat sein demagogisches Mundwerk gelernt. Das Hauptproplem ist aber tatsächlich nicht Leistungsturnen an sich. Sondern, dass an ihm die Lebensexistenz von Funktionären, Trainern und Ärzten hängt. Die um so gesicherter ist, je mehr Minderjährige sie "erfolgreich" durch die Mangel drehen. Und dies bekanntlich nicht nur im Turnen.

 

(ND vom 12.11.99, Rubrik "Einwurf")

 
Zu: Kommentar "Raub der Jugend", ND vom 12. 11. 99

 Sehr geehrter Kollege Müller,

Thema verfehlt und alte Klischees bedient, musste ich leider feststellen. Schade, dass das ND sich solch eines Kommentars nicht enthalten konnte.
Warum "Raub der Jugend", wenn sich Kinder gemeinsam mit ihren Eltern für eine leistungssportliche Laufbahn im Turnen entscheiden? Weil das Training zeitaufwendig ist und die Kinder sicher nicht so viel Zeit wie ihre Alterskameraden für andere Freizeitbeschäftigungen haben. Das trifft allerdings auch auf Nachwuchssportler/innen anderer Sportarten oder junge Musiker zu, die einmal Großes erreichen wollen.
Oder wollen Sie auf "Raub der Gesundheit" hinaus, was der norwegischen Begründung wohl näher käme. Sicher ist die physische Belastung junger Turnerinnen (und Turner!) sehr hoch, doch mit diesem Problem setzt sich der Deutsche Turner-Bund seit zehn Jahren intensiv auseinander und hat u. a. Veränderungen im internationalen Regelwerk, Verbesserungen der Geräteausstattung und umfassendere medizinische Betreuung erwirkt.
Doch selbst unter solchen Turnerinnen oder Turner, die aufgrund von sportbedingten Verletzungen ihre Laufbahn beenden mußten, habe ich noch niemanden kennengelernt, der seine Laufbahn als Leistungssportler als "Raub der Jugend" bezeichnen würde. Und ich kenne viele, gehöre selbst zu ihnen.
Ich akzeptiere, dass Sie das Kunstturnen, die extremste Form des Gerätturnens, nicht besonders mögen. Aber warum soll es "widernatürlich" sein, wenn sich 14/15jährige Turnerinnen sportliche Fertigkeiten antrainiert haben, die sich der Vorstellungswelt eines erwachsenen Nichtturners entziehen? Und warum bringen Sie nur das Beispiel der Mädchen und nicht das eines Nachwuchsturners, der zweifellos mit ähnlichen zirzensischen Kunststücken aufwarten kann?
Ist es für Sie auch widernatürlich, wenn junge Sportler/innen vom Zehn-Meter-Turm ins Wasser springen, von Sprungschanzen fliegen, auf dem Eis Pirouetten drehen? Technisch-kompositorische Sportarten unterliegen nun mal anderen Gesetzmäßigkeiten als das relativ simple Fußballspiel, bei dem übrigens die Verletzungsgefahr höher ist als beim Turnen.
Ob Sie die Brüggemann-Studie für glaubwürdig halten oder nicht, ist ihre Ansicht. Aber Herrn Riegert der Demagogie zu zeihen, ist ebenso demagogisch. Denn er hat recht: Bewegungsarmut unter Kindern ist ein gravierendes Problem, und die Landesturnverbände in Deutschland, die zigtausend Turnvereine und –abteilungen haben es sich verstärkt zur Aufgabe gemacht, vermittels des Kinderturnens diesem Problem zu begegnen.
Diese Form des Kinderturnens als sportartübergreifender Grundlagenausbildung würde sicher Ihren Intentionen entsprechen. Aber es ist schlicht unfair, diejenigen an der Spitze der Turnpyramide zu diskreditieren, die sich für den Leistungssport entschieden haben. Was ja nicht ausschließt, dass Missstände in diesem Bereich kritisiert werden können. Das Recht, Spitzensport zu betreiben, ist Teil der sportlichen Kultur dieses Landes, und die Entbehrungen werden (zumeist) freiwillig auf sich genommen. Ich kenne viele Eltern von Turnerinnen, die nie Druck auf ihre Kinder ausgeübt haben (die Gnauck-Eltern gehören dazu). Ich kenne auch Turnerinnen, die aufhörten, weil es ihnen zuviel wurde. Die Entscheidung soll man ruhig den Betreffenden oder Betroffenen überlassen.
Und noch ein Wort zu Ihrer Trainer-, Funktionärs- und Ärzteschelte, die als Argument ebenso ein Schuss in den Ofen ist. Zumal die Lebensexistenz von Ärzten, die zumindest im Turnen nebenberuflich die Athleten betreuen, keineswegs vom Erfolg der Athleten abhängt. Anders bei Trainern und Funktionären – doch das ist bei allen Spitzensportarten so und keinesfalls ein "Hauptproblem" im Leistungsturnen.
Nicht zuletzt wäre eine etwas kritischere Sicht auf die norwegische Initiative angebracht gewesen. Ein Alterslimit von 17 bei Olympia bedeutet doch in vielen Sportarten, trotzdem spätestens im Alter von acht oder neun Jahren mit regelmäßigem Training zu beginnen. Und selbst dort im Sport, wo die Norweger international führend sind, wie in den nordischen Skidisziplinen oder im Eisschnelllauf, muß im Nachwuchsbereich viel trainiert werden. Die Erfolge von Lillehammer basierten nicht auf einem spiel- und spaßbetonten Sportsystem, bei dem "Kinder in glücklicher Unwissenheit" lebten, wer der Beste ist.
Nehmen Sie mir das offene Wort nicht übel. Als Pressereferent des Schwäbischen Turnerbundes lade ich Sie gern zum Internationalen DTB-Pokal/Weltcup vom 26. – 28. November nach Stuttgart ein, wo Sie sich vor Orte wahlweise vom "Raub der Jugend" bei den internationalen Stars oder von einer wissenschaftlich fundierten, "spaßbetonten" Kinderturnausbildung in den Kindersportschulen und Talentschulen des Schwäbischen Turnerbundes überzeugen können.

 Mit kollegialen Grüßen
Andreas Götze,
Ostfildern

Leserzuschrift
Betr:"Raub der Jugend", von M.Müller vom 12.11.99

Wenn ich von einer Sache nichts vestehe, mache ich mich kundig oder halte ganz die klappe. Oder ich bediene mich einfach einem Boulevardjournalismus und schustere etwas "Sensationelles" zusammen.
....Wenn Herr Müller langjährig gepflegte Yellow press Klischeès über "kinderschändendes Kunstturnen" in dieser Zeitung nachplappert, um saxchkompetentenSportpolitikern anderer Parteien demagogisches Verhalten zu unterstellen, dann soll ihm hiermit aus den eigenen Reihen entschieden die rote Karte gezeigt werden. Der sportpo9litische Sprecher der CDU-Fraktion im Bundestag hat recht, wenn er sagt, ein Hauptproblem in diesem Lande ist nicht das Leistunsturnen, sondern die gesellschaftlich vorprogrammierte Bewegungsarmut für unsere Kinder und Jugendlichen, beginnend im Vorschulbereich, über einen praktizierten Schulsport, der vom Weltgipfel des Schulsports vor wenigen Tagen in Berlin in der Kategorie "Entwicklungsland" blossgestellt wurde, bis hin zu ungenügendem Bewegungsangebot in allen Altersbereichen, insbesondere in "Neufünfland."
Auf diesem Politikfeld liegt auch einer der Hauptpunkte für Täve (Gustav Adolf) Schur (MdB, Sportpol. Sprecher der PDS-Fraktion. Anm. Red) im Sportausschuss des Deutschen Bundestages und den kann man sich nicht durch unqualifiziertes ideologisch gefärbtes " Holzhämmern" zerschlagen lassen.
Persönlich noch neben der roten Karte eine symbolische Ohrfeige für Herrn Müller. Dazu ermächtige ich mich im Namen der über 10.000 Leistungs- turnerinnen und -turner, ihren Eltern, Verwandten, Freunden, Trainern, Ärzten, Übungsleitern, Funktionären, Kampfrichtern und weiteren 4 Millionen Mitgliedern des Deutschen Turner-Bundes. Wir lassen uns nicht durch Böswillikeit oder Dummheit unser verantwortungsvolles Engagement für unsere Sportart in den Dreck treten.

Klaus Köste
Turnolympiasieger 1972
(Pers. MA des MdM G.A. Schur, Sportpolitischer Sprecher der PDS-Fraktion im Deutschen Bundestag)

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12-11-99
- ehe -