Das aktuelle Interview:
Kurt Knirsch im Interview über
Talentförderung der Vereine und Olympia
Herr
Knirsch, wie ist Ihre Verbindung zu den Olympischen Spielen? Kurt
Knirsch: Ich war nur 1976 in Montreal als technischer
Beobachter des Turnens und habe die Bronzemedaille von Eberhard Gienger
am Reck miterlebt. In dieser Funktion ist man in einer „Mühle drin“
und hatte kaum Zeit, etwas anderes zu sehen als die Wettkampfhalle. Man
ist von der Wettkampfhalle ins Hotel gekommen, dort hat man natürlich
mit den Kollegen über das Gesehene gefachsimpelt. Wieder zurück in der
Wettkampfhalle hatte man Vorgespräche und Nachgespräch. Ich habe
praktisch nichts anderes gesehen als Halle und Hotel, da ich direkt nach
den Wettkämpfen wieder Dienst an der Uni hatte.
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Wie
kann die Zusammenarbeit aussehen? Knirsch:
Das Modell Tübingen wurde durch Marie-Luise Probst-Hindermann
aufgebaut und die erfolgreichen Mädchen starten nach wie vor für die
TSG, obwohl sie jetzt in Stuttgart im Kunst-Turn-Forum (KTF) trainieren.
Dort haben wir jetzt mit Tamara Khokhlowa eine großartige Trainerin,
die internationales Niveau repräsentiert – um sie beneiden uns viele
Verbände. Sie ist ein Glücksfall für den STB und die Turnerinnen. Die
Mädchen, die bei ihr trainieren, sind auf dem Sprung zum
internationalen Niveau. Der Weg zur deutschen Spitze war schon schwer
genug, aber die Entwicklung von der deutschen zur internationalen Spitze
ist im Vergleich dazu ein Quantensprung. Knirsch:
Da gehören noch mehr Beteiligte dazu. Beispielsweise hat die Stadt Tübingen
die Tübingen-Arena gebaut. Darin ist eine schmale Gerätturnhalle
integriert, damit die Nachwuchsgruppe der Mädchen nicht täglich 50
Kilometer ins KTF nach Stuttgart fahren müss. Für den Bau der Halle in
Tübingen kamen viele Komponenten zusammen, es war auch ein wenig Glück
im Spiel, weil die Tübinger Basketballer wieder in die Bundesliga
aufgestiegen sind und eine bestimmte Hallengröße benötigen, um überhaupt
die Lizenz für die erste Liga zu bekommen. Tübingen
ist ein Glücksfall. Was machen Talente, die vom Bodensee kommen? Knirsch:
In diesem Fall müssen wir auf die Mitarbeit der Eltern hoffen. Ab
dem C-Kaderniveau müssen Nachwuchsturner ins KTF wechseln, um optimale
Trainingsbedingungen zu haben. Es ist dann aber trotzdem nicht gesagt,
dass die Jugendlichen weitermachen, wenn sie 15 oder 16 Jahre alt sind,
weil mögliche Probleme auftauchen oder sie verstärkt eigene
Vorstellungen entwickeln. Thomas Andergassen haben wir im STB eine
Lehrstelle als Verwaltungskaufmann anbieten können – er kommt vom
Bodensee, dem TV Kressbronn. Nur so konnten wir ihn beim Turnen halten.
Und die Eltern waren bereit, ihn als 15-Jährigen nach Stuttgart zu
geben, damit er sich bei Klaus Nigl, dem jetzigen Bundestrainer
weiterentwickeln konnte. Sein damaliger Trainer, Martin Kling ist
studienbedingt nach Schwäbisch Gmünd gekommen, wir hatten ihn in
Stuttgart als Nachwuchstrainer eingesetzt. Knirsch:
Das Spitzensportsystem in unserer Gesellschaft ist auf Grund vielfältiger
Angebote und der Sättigung für viele junge Menschen natürlich überhaupt
nicht attraktiv. Sie brauchen, wie in begleitenden Bereichen im
positiven Sinne, verrückte Athleten, die ehrgeizig sind und es wirklich
als erstrebenswertes Ziel ansehen, bei Olympischen Spielen teilzunehmen
oder sogar eine Medaille zu gewinnen. Es müssen dabei zusätzlich die möglichen
Risiken und Verletzungsgefahren, die im Spitzensport auftreten können,
beachtet werden. Wenn ein Athlet dann die Schule nicht zu Ende macht
oder keine Berufsausbildung hat, dann stehen Spitzensportler, wenn sie
nicht als Berufssportler viel Geld verdient haben, schlecht da. Es kann
nicht jeder ein Boris Becker werden. Knirsch:
Er sollte ihm die Möglichkeit geben, in einen dezentralen oder
zentralen Leistungsstützpunkt mit professionellen Bedingungen zu
wechseln. Dafür müssten die jeweiligen Landesturnverbände eine
zentrale Trainingsstätte schaffen. Ist der Verein nicht weiter als 20
Kilometer entfernt, kann der Landesstützpunkt mit täglichem Fahren
ohne großen zeitlichen Aufwand erreicht werden. Oder es ist ein
dezentraler Stützpunkt in der Nähe, der ebenfalls professionelle
Voraussetzungen aufweist. Trotzdem sollten diese Talente an den
Wochenenden regelmäßig, zentral und gemeinsam trainieren können. Knirsch:
Das ist ein wichtiger Punkt, manchmal ein allzu menschliches,
teilweise familiäres Problem. Aus Sicht der Vereine haben wir im STB
die Grundregel, dass die Turner und Turnerinnen grundsätzlich für
ihren Heimatverein starten, auch wenn sie kaum noch in ihrem
Heimatverein trainieren. Wir wollen das vorhandene Potenzial ausschöpfen
und die Talente fördern und die Vereine sollen die Nutznießer sein. Knirsch: Es kommen dann Talente nach, wenn sich im Verein Personen um die Förderung von bewegungsbegabten Kindern im Verein bemühen. Dabei müssen sie die Grundlagenausbildung entsprechend qualifiziert gestalten. Für eine einzelne Person oder einen Trainer ist es kaum möglich, sich gleichzeitig um die Spitzenturner zu bemühen und die Nachwuchsarbeit der sechs- oder siebenjährigen Mädchen oder Jungen zu sichern. Aus den Kadern ausscheidende Turnerinnen oder Turner sollen jedoch dem Turnen erhalten bleiben, diese verlangen jedoch nach ihrem Ausscheiden die gleiche Trainingsqualität wie vorher. Nicht alle Turnerinnen und Turner, die den Landes- oder gar Bundeskader erreicht haben, wollen oder können den Weg zur nationalen Spitze weiter gehen. Zurzeit ist dies bei der TSG Tübingen ein Problem. Es wird nach einer Lösung gesucht. Aber grundsätzlich braucht man für beide Gruppierungen qualifizierte Trainer. (Quelle: STB magazin
7/2004, Seite 48/49; mit freundlicher Genehmigung des STB)
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