Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?
203-Aug-2004

"Es kann nicht jeder ein Boris Becker werden"
Was können Vereine zur Talentförderung beitragen?

Interview mit Kurt Knirsch, STB-Vize-Präsident

 

Das aktuelle Interview: Kurt Knirsch im Interview über Talentförderung der Vereine und Olympia
(- mit freundlicher Genehmigung des STB-Magazins; Quelle: STB magazin 07 / 2004)

<< Kurt Knirsch
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der STB-Vizepräsident für Spitzensport, im Interview mit Jens Gieseler. 
Knirsch gehört außerdem dem Landesausschuss für Leistungssport (LAL) des LSV Baden-Württemberg an, war Dozent an der Universität Tübingen und ist den Vereinen und in der Turnszene vor allem als Autor vieler Grundlagenbücher über Gerät- und Kunstturnen bekannt.

Herr Knirsch, wie ist Ihre Verbindung zu den Olympischen Spielen?

Kurt Knirsch: Ich war nur 1976 in Montreal als technischer Beobachter des Turnens und habe die Bronzemedaille von Eberhard Gienger am Reck miterlebt. In dieser Funktion ist man in einer „Mühle drin“ und hatte kaum Zeit, etwas anderes zu sehen als die Wettkampfhalle. Man ist von der Wettkampfhalle ins Hotel gekommen, dort hat man natürlich mit den Kollegen über das Gesehene gefachsimpelt. Wieder zurück in der Wettkampfhalle hatte man Vorgespräche und Nachgespräch. Ich habe praktisch nichts anderes gesehen als Halle und Hotel, da ich direkt nach den Wettkämpfen wieder Dienst an der Uni hatte. Natürlich hatte ich als Sportstudent großes Interesse an Olympischen Spielen. Bereits vor den Olympischen Spielen 1956 in Melbourne war es eine besondere Verbindung zu Helmut Bantz, der damals die Goldmedaille im Pferdsprung errang. Ihn kannte ich persönlich durch meine Studienzeit in Köln.

Welche Funktion haben Vereine für die Olympischen Spiele?

Knirsch: Das ist keine direkte Aufgabe, das könnten sie gar nicht leisten. Wenn jedoch gute Grundkonzeptionen vorhanden sind, wie sie der STB jetzt im Nachwuchsbereich entwickelt hat, dann können Vereine dezentrale Aufgaben erfüllen. Und zwar indem sie die Grundlagen schaffen, damit Kinder nach ein, zwei Jahren Vorbereitung den Test für den STB-D-1-Kader bestehen. Aber ab dem D-1-Kader müssen die Turnerinnen und Turner zentral erfasst und in die Vorbereitung genommen werden. Dann ist das Vereinstraining in enger Kooperation zwischen dem Landes- und Vereinstrainer natürlich optimal abzustimmen. Andernfalls funktioniert die Förderung nicht, es sei denn, dass Vereine über personelle und räumliche Voraussetzungen verfügen, Leistungstraining zu sichern. Ansonsten können sie in der Regel die Grundlagen schaffen. Mit der Förderung eines Spitzenathleten und dem dafür erforderlichen Betreuungsaufwand wären Vereine überfordert.


STB magazin 7 / 2004
mit den beiden STB-Olympioniken Andergessen (Turnen) 
und Ingildeeva (RSG) auf dem Cover

 

Wie kann die Zusammenarbeit aussehen?

Knirsch: Das Modell Tübingen wurde durch Marie-Luise Probst-Hindermann aufgebaut und die erfolgreichen Mädchen starten nach wie vor für die TSG, obwohl sie jetzt in Stuttgart im Kunst-Turn-Forum (KTF) trainieren. Dort haben wir jetzt mit Tamara Khokhlowa eine großartige Trainerin, die internationales Niveau repräsentiert – um sie beneiden uns viele Verbände. Sie ist ein Glücksfall für den STB und die Turnerinnen. Die Mädchen, die bei ihr trainieren, sind auf dem Sprung zum internationalen Niveau. Der Weg zur deutschen Spitze war schon schwer genug, aber die Entwicklung von der deutschen zur internationalen Spitze ist im Vergleich dazu ein Quantensprung.
Die TSG hat die Arbeit von Frau Probst-Hindermann wesentlich unterstützt, den Hintergrund für bestimmte Strukturen geschaffen, aber die Leistungsarbeit, die zur Teilnahme an Olympischen Spielen führt, kann ein Verein allein nicht schaffen.

  Aber auch dafür brauchen Sie auch in den Vereinen „Turnverrückte“?

Knirsch: Wir sind wohl alle im positiven Sinne ein bisschen verrückt. So gibt es zum Beispiel in der Rhythmischen Sportgymnastik ein paar Vereine, die mit unglaublich hohem persönlichem Einsatz, Vereins- und privaten Mitteln eine Trainerin beschäftigen und gute Arbeit leisten.
In Fellbach-Schmiden ist es beispielsweise die Familie Bürkle, die den Bundesstützpunkt Sportgymnastik aufgebaut haben. Sie fassen das als Lebensaufgabe auf. Das Gleiche gilt für Ulm/ Söflingen, da gibt es neben dem Vereinsengagement einen Sponsor, der dafür eine russische Trainerin angestellt hat.
Das sind zwar Einzelfälle, aber im Spitzensport-System hat der normale Verein für den internationalen Spitzensport in der Regel nicht die Voraussetzungen. Für die Grundlagenarbeit, da ist der Verein gefragt. Selbst im Fußball ist die Nachwuchsarbeit in den Vereinen mehr ein Zufallsprodukt. Das könnte eine der Ursachen sein, warum der Fußball jetzt einige Probleme hat. So sind z. B. erst von der B- oder A-Jugend an die Talentsichter bei den Turnieren und danach werden die Ausgesuchten zur Förderung auf Landesebene eingeladen.


Wie sollte die Zusammenarbeit zwischen Vereinen und Verband verzahnt sein?

Knirsch: Da gehören noch mehr Beteiligte dazu. Beispielsweise hat die Stadt Tübingen die Tübingen-Arena gebaut. Darin ist eine schmale Gerätturnhalle integriert, damit die Nachwuchsgruppe der Mädchen nicht täglich 50 Kilometer ins KTF nach Stuttgart fahren müss. Für den Bau der Halle in Tübingen kamen viele Komponenten zusammen, es war auch ein wenig Glück im Spiel, weil die Tübinger Basketballer wieder in die Bundesliga aufgestiegen sind und eine bestimmte Hallengröße benötigen, um überhaupt die Lizenz für die erste Liga zu bekommen.

Tübingen ist ein Glücksfall. Was machen Talente, die vom Bodensee kommen?

Knirsch: In diesem Fall müssen wir auf die Mitarbeit der Eltern hoffen. Ab dem C-Kaderniveau müssen Nachwuchsturner ins KTF wechseln, um optimale Trainingsbedingungen zu haben. Es ist dann aber trotzdem nicht gesagt, dass die Jugendlichen weitermachen, wenn sie 15 oder 16 Jahre alt sind, weil mögliche Probleme auftauchen oder sie verstärkt eigene Vorstellungen entwickeln. Thomas Andergassen haben wir im STB eine Lehrstelle als Verwaltungskaufmann anbieten können – er kommt vom Bodensee, dem TV Kressbronn. Nur so konnten wir ihn beim Turnen halten. Und die Eltern waren bereit, ihn als 15-Jährigen nach Stuttgart zu geben, damit er sich bei Klaus Nigl, dem jetzigen Bundestrainer weiterentwickeln konnte. Sein damaliger Trainer, Martin Kling ist studienbedingt nach Schwäbisch Gmünd gekommen, wir hatten ihn in Stuttgart als Nachwuchstrainer eingesetzt.

  Sind für eine/n Athleten/in private, berufliche und sportliche Interessen überhaupt noch unter einen Hut zu bekommen?

Knirsch: Das Spitzensportsystem in unserer Gesellschaft ist auf Grund vielfältiger Angebote und der Sättigung für viele junge Menschen natürlich überhaupt nicht attraktiv. Sie brauchen, wie in begleitenden Bereichen im positiven Sinne, verrückte Athleten, die ehrgeizig sind und es wirklich als erstrebenswertes Ziel ansehen, bei Olympischen Spielen teilzunehmen oder sogar eine Medaille zu gewinnen. Es müssen dabei zusätzlich die möglichen Risiken und Verletzungsgefahren, die im Spitzensport auftreten können, beachtet werden. Wenn ein Athlet dann die Schule nicht zu Ende macht oder keine Berufsausbildung hat, dann stehen Spitzensportler, wenn sie nicht als Berufssportler viel Geld verdient haben, schlecht da. Es kann nicht jeder ein Boris Becker werden.

  Was kann ein Verein tun, wenn er einen talentierten Turner hat?

Knirsch: Er sollte ihm die Möglichkeit geben, in einen dezentralen oder zentralen Leistungsstützpunkt mit professionellen Bedingungen zu wechseln. Dafür müssten die jeweiligen Landesturnverbände eine zentrale Trainingsstätte schaffen. Ist der Verein nicht weiter als 20 Kilometer entfernt, kann der Landesstützpunkt mit täglichem Fahren ohne großen zeitlichen Aufwand erreicht werden. Oder es ist ein dezentraler Stützpunkt in der Nähe, der ebenfalls professionelle Voraussetzungen aufweist. Trotzdem sollten diese Talente an den Wochenenden regelmäßig, zentral und gemeinsam trainieren können.

  Lassen denn die Heimtrainer einen talentierten Sportler los? Sie sind doch ein wichtiger Teil des Erfolges?

Knirsch: Das ist ein wichtiger Punkt, manchmal ein allzu menschliches, teilweise familiäres Problem. Aus Sicht der Vereine haben wir im STB die Grundregel, dass die Turner und Turnerinnen grundsätzlich für ihren Heimatverein starten, auch wenn sie kaum noch in ihrem Heimatverein trainieren. Wir wollen das vorhandene Potenzial ausschöpfen und die Talente fördern und die Vereine sollen die Nutznießer sein.

  Kommen in erfolgreichen Vereinen Talente nach, die sich an ihren Vorgängern orientieren und sich durch diese Vorbilder motivieren lassen?

Knirsch: Es kommen dann Talente nach, wenn sich im Verein Personen um die Förderung von bewegungsbegabten Kindern im Verein bemühen. Dabei müssen sie die Grundlagenausbildung entsprechend qualifiziert gestalten. Für eine einzelne Person oder einen Trainer ist es kaum möglich, sich gleichzeitig um die Spitzenturner zu bemühen und die Nachwuchsarbeit der sechs- oder siebenjährigen Mädchen oder Jungen zu sichern. Aus den Kadern ausscheidende Turnerinnen oder Turner sollen jedoch dem Turnen erhalten bleiben, diese verlangen jedoch nach ihrem Ausscheiden die gleiche Trainingsqualität wie vorher. Nicht alle Turnerinnen und Turner, die den Landes- oder gar Bundeskader erreicht haben, wollen oder können den Weg zur nationalen Spitze weiter gehen. Zurzeit ist dies bei der TSG Tübingen ein Problem. Es wird nach einer Lösung gesucht. Aber grundsätzlich braucht man für beide Gruppierungen qualifizierte Trainer.

(Quelle: STB magazin 7/2004, Seite 48/49; mit freundlicher Genehmigung des STB)

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