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Nico Karsdorf
(Möbisburger SV)
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Gedanken zu dem
Bericht über die EM und das Interview von Reinhard Tietz.
Über die Berichterstattung zur EM muss ich
sagen, dass ich im Allgemeinen zufrieden war, da sie schnell erfolgte.
Die Einschätzung der deutschen Teilnehmer war jedoch relativ negativ
und hat am Finaltag völlig gefehlt. Für Outsider hätten
Hintergrundinformationen über die Trainingsbedingungen der deutschen
Teilnehmer von Bedeutung sein können, da dadurch der
Leistungsunterschied zu den anderen Nationen hauptsächlich begründet
liegt - Trainingsbedingungen, die ein Herr Tietz gar nicht kennt.
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Woher nimmt er sich eigentlich das Recht
über die Leistungen der deutschen Teilnehmer zu urteilen. Die
Leistungen der Sportler im Wettkampf reflektieren die Leistungen des
Systems (Trainingsbedingungen, Verband, Förderung usw.), die Leistungen
des Trainers sowie die Einstellung zum Leistungssport und Fähigkeiten
des Sportlers.
Ich gebe Herrn Tietz recht, dass
Leistungsträger zentriert werden sollten, um erfolgversprechende Paare
und Gruppen zu bilden und hohe Trainingsumfänge unter guten
Trainingsbedingungen und professioneller Anleitung zu realisieren.
Jedoch glaube ich, dass er hier in einer Traumwelt lebt.
Die Probleme fangen meistens erst bei den Senioren an.
Es gibt keine Sporthilfe oder Unternehmen, die Sportler
einstellen und bezahlen, damit ihre Arbeitskraft auf der Matte zum
Einsatz kommt. In dieser Gesellschaftsordnung - Kapitalismus genannt -
muss jeder sehen, dass er einen Studienplatz, Ausbildungsplatz oder eine
Arbeitsstelle bekommt ...egal wo.
Der Unterpartner des deutschen Mixed-Paír hat eine eigene
Physiotherapiepraxis in Erfurt. Trotz einer 50 Stundenwoche fährt er
viermal pro Woche auf eigene Kosten nach Suhl zum Training. In der
Trainingshalle existieren weder Spiegelwand, Springboden noch
ausgebildete Choreographen. Die Halle wird von mehreren Sportarten
genutzt, womit kaum flexible Hallenbelegungen und Trainingszeiten möglich
sind. Unter diesen Bedingungen (finanziell, personell und materiell)
trainieren viele Vereine in Deutschland, wobei das Training fast
ausschließlich von ehrenamtlichen Trainern und Übungsleitern, die aus
Liebe zur Sportakrobatik ihre Freizeit opfern (häufig auf Kosten des
Familienlebens), geleitet wird. Herr Tietz sollte mal versuchen, das
Privat-, Schul- und Berufsleben von vier Männern so zu organisieren,
dass ein hoher Trainingsumfang zusammen möglich ist.
Ich bin der festen
Überzeugung, dass die deutsche Sportakrobatik in den letzten
Jahren einen Aufwärtstrend hinsichtlich Schwierigkeiten und
ausdrucksstarken Choreographien erlebt hat. Und dies nicht nur in Riesa,
Schwerin und Berlin-Hellersdorf. Andere Nationen haben aber eben noch größere
Fortschritte erzielt, da eine andere Förderung stattfindet. Oder hat
Portugal als Ausrichter der EM`01 vielleicht nicht eine Unterstützung
in Millionenhöhe im Vorfeld der Titelkämpfe erhalten, damit mit
entsprechenden Leistungen zur EM aufgewartet werden konnte?
Die “Früchte” ernten die portugiesischen Sportakrobaten seither.
Unter den herrschenden Bedingungen
in den meisten Vereinen Deutschlands sind höhere und vor allem
stabilere Leistungen sehr schwer möglich.
Ich muss sagen, dass die Ergebnisse der deutschen Teilnehmer bei der EM
gut waren. Weiterhin ist es gut, dass Vitcho Kolev in der Lage war, jede
Disziplin bei den Senioren zu besetzen, was verschiedene Topnationen
nicht konnten. Außerdem gibt es Nominierungskriterien in Deutschland.
Leider lässt die Alterstruktur nicht zu, dass immer die Besten
nominiert werden können. Jedoch waren alle Teilnehmer die besten in
ihrem Alter und somit haben sie die Teilnahme und das Recht ihr Land zu
vertreten verdient. Sie sind gewiss keine Touristen, sondern
Leistungssportler, die jede freie Minute für ihren Sport aufbringen.
Ich bin der Meinung, dass geringe
Trainingsumfänge hauptsächlich der Grund für die Unsicherheiten in
den Übungen waren und sind. Wenn ein deutsches Herrenpaar 111 Value in
der Tempoübung turnt und damit einen 4.Platz erreicht, dann ziehe ich
den Hut.
Im Gymmedia EM-Bericht wurde
geschrieben, dass diese Platzierung aufgrund der Patzer der anderen
zustande kam. Müsste man dann nicht sagen, dass die anderen Nationen
nur vor Deutschland lagen, weil die Deutschen gepatzt haben? Was sollen
also solche Bemerkungen? Wenn ein 4.Platz erreicht wird, dann wegen der
eigenen Leistung und wenn andere patzen, dann waren sie an diesem Tag
definitiv schlechter.
Warum hatte denn
das deutsche Junioren-Damenpaar das Finale verpasst?
Herr Tietz spricht hier von gezeigten Nerven als Grund. Könnte
nicht seine direkte Wettkampfvorbereitung am Wettkampfort die
Ursache für die Fehler gewesen sein? Als Absolvent der DHfK (Fakultät
“Sportwissenschaft” zu meiner Zeit) ist er sicher mit dem Begriff
“übertrainiert” vertraut und vielleicht war ja seine Jahresplanung
nicht genau auf den Jahreshöhepunkt ausgerichtet. Auf alle Fälle
sollte er die Courage besitzen, eigene Fehler einzugestehen falls er sie
gemacht hat, bevor er über die Leistungen anderer Sportler herzieht.
Hat er nicht die Zugehörigkeit seiner Schützlinge zur
Nationalmannschaft bewusst blockiert und somit das Mannschaftsgefühl
vorenthalten? Übrigens ist es eine Nationalmannschaft - keine aus dem
Osten oder Westen. Die Mauer scheint noch immer in den Köpfen einiger
Leute zu stehen. Bevor er mit wohlklingenden Wörtern wie
“Leistungssportprinzipien”, “Mehrjahresplanung” oder auch
“Trainingsmethodik” um sich wirft, sollte er vielleicht die Wörter
“Mannschaft” und “Spaß” im Lexikon nachschlagen.
Wir sind Amateure ... gute Amateure im großen
Feld der Profis.
Was wären Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften ohne die
Teilnahme der schwächeren Nationen? Es kann nicht jeder gewinnen.
Es ist wahr, dass ein Umbruch in der Arbeitsweise im DSAB stattfinden müsste.
Möchte Herr Tietz Arbeitsplätze mit geringen Arbeitsstunden für die
meisten Unterpartner schaffen, möchte er die Trainer (natürlich nur
die mit Kenntnissen über Leistungssportprinzipien) hauptberuflich beschäftigen
und möchte er im Kindergarten sichten und die Eltern von hohen
Trainingsumfängen ihrer Schützlinge überzeugen und die Internatsplätze
bezahlen? Immerhin möchte er ja alles ohne Sponsorengelder und
Medieneinfluss machen.
Ich gebe zu, dass
der DSAB wahrscheinlich eine etwas effektivere Finanzpolitik betreiben könnte,
aber bei den Summen, wäre es doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein
und ich möchte mir nicht im Entferntesten anmaßen zu sagen, wie und
wofür die Gelder genutzt werden sollten. Was glaubt denn Herr Tietz wie
hoch der Jahresetat ist?
Glaubt er, dass ein Eintritt in den DTB etwas ändert? Man sieht doch wo
in der Welt das deutsche Kunstturnen steht. Trotzdem würde ich nie
behaupten, dass die Leistungen deutscher Turner oder Turnerinnen
schlecht sind, da alle ihr Bestes geben. Warum nun sollte der DSAB den Fehler der IFSA nachmachen? Welche positiven Veränderungen hat die
FIG für die Akrobatik gebracht? Wir sind nicht olympisch, wir haben
“tausend” Altersklassen und Weltmeister wird, wer eine gute Kombiübung
turnt. Was kommt als nächstes?
Der DSAB sollte
vorerst selbstständig bleiben.
Ja, Riesa ist ein Vorzeigebeispiel für den richtigen Weg - Turner und
Akrobaten arbeiten zusammen, gute Hallenbedingungen in eigener Halle,
bezahlte qualifizierte Trainer und Choreographen, Internat und eine
sportbegeisterte Kommunalpolitik.
Mit der Unterstützung von Bund, Landesverbänden und Elternhaus müssen
Trainingsbedingungen geschaffen werden, die die Sportler zur Motivation
anregen. Ansonsten sind Playstation, Skateboard und PC interessanter.
Wir benötigen bezahlte qualifizierte Trainer und Choreographen, die
Zusammenarbeit von Vereinen (Startgemeinschaften), gute
Hallenausstattungen, flexible Hallennutzungszeiten, verständnisvolle
Arbeitgeber, Sponsoren und die Unterstützung der Medien von der ersten
Minute an. Weiterhin sollte man die Fähigkeiten von Bundestrainer
Vitcho Kolev besser nutzen und seine Ideen umsetzen. An erster Stelle
jedoch sollten Trainer und Funktionäre uneigennützig hinter ihrem
Sport stehen und wenn ein Sportler sich dem Leistungssport verschrieben
hat, dann sollte er diesen weitestgehend kompromisslos betreiben.
Ich kann nur sagen,
dass ich stolz war, Deutschland und den DSAB bei WM und EM zu vertreten.
Aus diesen Teilnahmen weiß ich, dass jeder EM-Teilnehmer versucht hat,
sein Bestes zu geben und damit verdient hat, sein Land zu vertreten -
auch wenn die Nominierung altersbedingt erfolgte. Dadurch ziehe ich den
Hut vor den Leistungen der deutschen Akrobaten.
Mit freundlichen Grüßen,
Nico Karsdorf (Möbisburger SV)
>> Meinung eines Athleten auf das GYMmedia-Interview
mit Reinhard Tietz, TuS Hellersdorf
in Auswertung der EM 2003 in Zielona Gora;
>> - siehe auch Brief
des DSAB-Vize-Präsidenten Breitensport, Dr.J. Eismann,
Leipzig/Schkeuditz)
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