Ist der deutsche Turnsport noch zu retten...?
29-Nov-2002

Zur Kritik der Deutschen Sportakrobatik nach der EM 2003
im GYMmedia-Interview mit dem Berliner Akro-Trainer Reinhard Tietz
(- siehe GYMmedia-News vom 12. November 2003)

(- Nico Karsdorf; Sportakrobat)

 


Nico Karsdorf
(Möbisburger SV)

Gedanken zu dem Bericht über die EM und das Interview von Reinhard Tietz.

Über die Berichterstattung zur EM muss ich sagen, dass ich im Allgemeinen zufrieden war, da sie schnell erfolgte. Die Einschätzung der deutschen Teilnehmer war jedoch relativ negativ und hat am Finaltag völlig gefehlt. Für Outsider hätten Hintergrundinformationen über die Trainingsbedingungen der deutschen Teilnehmer von Bedeutung sein können, da dadurch der Leistungsunterschied zu den anderen Nationen hauptsächlich begründet liegt - Trainingsbedingungen, die ein Herr Tietz gar nicht kennt.

Woher nimmt er sich eigentlich das Recht über die Leistungen der deutschen Teilnehmer zu urteilen. Die Leistungen der Sportler im Wettkampf reflektieren die Leistungen des Systems (Trainingsbedingungen, Verband, Förderung usw.), die Leistungen des Trainers sowie die Einstellung zum Leistungssport und Fähigkeiten des Sportlers.
Ich gebe Herrn Tietz recht, dass Leistungsträger zentriert werden sollten, um erfolgversprechende Paare und Gruppen zu bilden und hohe Trainingsumfänge unter guten Trainingsbedingungen und professioneller Anleitung zu realisieren. Jedoch glaube ich, dass er hier in einer Traumwelt lebt.

Die Probleme fangen meistens erst bei den Senioren an.
Es gibt keine Sporthilfe oder Unternehmen, die Sportler einstellen und bezahlen, damit ihre Arbeitskraft auf der Matte zum Einsatz kommt. In dieser Gesellschaftsordnung - Kapitalismus genannt - muss jeder sehen, dass er einen Studienplatz, Ausbildungsplatz oder eine Arbeitsstelle bekommt ...egal wo.
Der Unterpartner des deutschen Mixed-Paír hat eine eigene Physiotherapiepraxis in Erfurt. Trotz einer 50 Stundenwoche fährt er viermal pro Woche auf eigene Kosten nach Suhl zum Training. In der Trainingshalle existieren weder Spiegelwand, Springboden noch ausgebildete Choreographen. Die Halle wird von mehreren Sportarten genutzt, womit kaum flexible Hallenbelegungen und Trainingszeiten möglich sind. Unter diesen Bedingungen (finanziell, personell und materiell) trainieren viele Vereine in Deutschland, wobei das Training fast ausschließlich von ehrenamtlichen Trainern und Übungsleitern, die aus Liebe zur Sportakrobatik ihre Freizeit opfern (häufig auf Kosten des Familienlebens), geleitet wird. Herr Tietz sollte mal versuchen, das Privat-, Schul- und Berufsleben von vier Männern so zu organisieren, dass ein hoher Trainingsumfang zusammen möglich ist.

Ich bin der festen Überzeugung, dass die deutsche Sportakrobatik in den letzten Jahren einen Aufwärtstrend hinsichtlich Schwierigkeiten und ausdrucksstarken Choreographien erlebt hat. Und dies nicht nur in Riesa, Schwerin und Berlin-Hellersdorf. Andere Nationen haben aber eben noch größere Fortschritte erzielt, da eine andere Förderung stattfindet. Oder hat Portugal als Ausrichter der EM`01 vielleicht nicht eine Unterstützung in Millionenhöhe im Vorfeld der Titelkämpfe erhalten, damit mit entsprechenden Leistungen zur EM aufgewartet werden konnte?
Die “Früchte” ernten die portugiesischen Sportakrobaten seither.
Unter den herrschenden Bedingungen in den meisten Vereinen Deutschlands sind höhere und vor allem stabilere Leistungen sehr schwer möglich.
Ich muss sagen, dass die Ergebnisse der deutschen Teilnehmer bei der EM gut waren. Weiterhin ist es gut, dass Vitcho Kolev in der Lage war, jede Disziplin bei den Senioren zu besetzen, was verschiedene Topnationen nicht konnten. Außerdem gibt es Nominierungskriterien in Deutschland. Leider lässt die Alterstruktur nicht zu, dass immer die Besten nominiert werden können. Jedoch waren alle Teilnehmer die besten in ihrem Alter und somit haben sie die Teilnahme und das Recht ihr Land zu vertreten verdient. Sie sind gewiss keine Touristen, sondern Leistungssportler, die jede freie Minute für ihren Sport aufbringen.

Ich bin der Meinung, dass geringe Trainingsumfänge hauptsächlich der Grund für die Unsicherheiten in den Übungen waren und sind. Wenn ein deutsches Herrenpaar 111 Value in der Tempoübung turnt und damit einen 4.Platz erreicht, dann ziehe ich den Hut.
Im Gymmedia EM-Bericht wurde geschrieben, dass diese Platzierung aufgrund der Patzer der anderen zustande kam. Müsste man dann nicht sagen, dass die anderen Nationen nur vor Deutschland lagen, weil die Deutschen gepatzt haben? Was sollen also solche Bemerkungen? Wenn ein 4.Platz erreicht wird, dann wegen der eigenen Leistung und wenn andere patzen, dann waren sie an diesem Tag definitiv schlechter.

Warum hatte denn das deutsche Junioren-Damenpaar das Finale verpasst?
Herr Tietz spricht hier von gezeigten Nerven als Grund. Könnte  nicht seine direkte Wettkampfvorbereitung am Wettkampfort die Ursache für die Fehler gewesen sein? Als Absolvent der DHfK (Fakultät “Sportwissenschaft” zu meiner Zeit) ist er sicher mit dem Begriff “übertrainiert” vertraut und vielleicht war ja seine Jahresplanung nicht genau auf den Jahreshöhepunkt ausgerichtet. Auf alle Fälle sollte er die Courage besitzen, eigene Fehler einzugestehen falls er sie gemacht hat, bevor er über die Leistungen anderer Sportler herzieht. Hat er nicht die Zugehörigkeit seiner Schützlinge zur Nationalmannschaft bewusst blockiert und somit das Mannschaftsgefühl vorenthalten? Übrigens ist es eine Nationalmannschaft - keine aus dem Osten oder Westen. Die Mauer scheint noch immer in den Köpfen einiger Leute zu stehen. Bevor er mit wohlklingenden Wörtern wie “Leistungssportprinzipien”, “Mehrjahresplanung” oder auch “Trainingsmethodik” um sich wirft, sollte er vielleicht die Wörter “Mannschaft” und “Spaß” im Lexikon nachschlagen.
Wir sind Amateure ... gute Amateure im großen Feld der Profis. 
Was wären Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften ohne die Teilnahme der schwächeren Nationen? Es kann nicht jeder gewinnen. Es ist wahr, dass ein Umbruch in der Arbeitsweise im DSAB stattfinden müsste. Möchte Herr Tietz Arbeitsplätze mit geringen Arbeitsstunden für die meisten Unterpartner schaffen, möchte er die Trainer (natürlich nur die mit Kenntnissen über Leistungssportprinzipien) hauptberuflich beschäftigen und möchte er im Kindergarten sichten und die Eltern von hohen Trainingsumfängen ihrer Schützlinge überzeugen und die Internatsplätze bezahlen? Immerhin möchte er ja alles ohne Sponsorengelder und Medieneinfluss machen.

Ich gebe zu, dass der DSAB wahrscheinlich eine etwas effektivere Finanzpolitik betreiben könnte, aber bei den Summen, wäre es doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein und ich möchte mir nicht im Entferntesten anmaßen zu sagen, wie und wofür die Gelder genutzt werden sollten. Was glaubt denn Herr Tietz wie hoch der Jahresetat ist?
Glaubt er, dass ein Eintritt in den DTB etwas ändert? Man sieht doch wo in der Welt das deutsche Kunstturnen steht. Trotzdem würde ich nie behaupten, dass die Leistungen deutscher Turner oder Turnerinnen schlecht sind, da alle ihr Bestes geben. Warum nun sollte der DSAB den Fehler der IFSA nachmachen? Welche positiven Veränderungen hat die FIG für die Akrobatik gebracht? Wir sind nicht olympisch, wir haben “tausend” Altersklassen und Weltmeister wird, wer eine gute Kombiübung turnt. Was kommt als nächstes?

Der DSAB sollte vorerst selbstständig bleiben.
Ja, Riesa ist ein Vorzeigebeispiel für den richtigen Weg - Turner und Akrobaten arbeiten zusammen, gute Hallenbedingungen in eigener Halle, bezahlte qualifizierte Trainer und Choreographen, Internat und eine sportbegeisterte Kommunalpolitik.
Mit der Unterstützung von Bund, Landesverbänden und Elternhaus müssen Trainingsbedingungen geschaffen werden, die die Sportler zur Motivation anregen. Ansonsten sind Playstation, Skateboard und PC interessanter. Wir benötigen bezahlte qualifizierte Trainer und Choreographen, die Zusammenarbeit von Vereinen (Startgemeinschaften), gute Hallenausstattungen, flexible Hallennutzungszeiten, verständnisvolle Arbeitgeber, Sponsoren und die Unterstützung der Medien von der ersten Minute an. Weiterhin sollte man die Fähigkeiten von Bundestrainer Vitcho Kolev besser nutzen und seine Ideen umsetzen. An erster Stelle jedoch sollten Trainer und Funktionäre uneigennützig hinter ihrem Sport stehen und wenn ein Sportler sich dem Leistungssport verschrieben hat, dann sollte er diesen weitestgehend kompromisslos betreiben.

Ich kann nur sagen, dass ich stolz war, Deutschland und den DSAB bei WM und EM zu vertreten. Aus diesen Teilnahmen weiß ich, dass jeder EM-Teilnehmer versucht hat, sein Bestes zu geben und damit verdient hat, sein Land zu vertreten - auch wenn die Nominierung altersbedingt erfolgte. Dadurch ziehe ich den Hut vor den Leistungen der deutschen Akrobaten.

Mit freundlichen Grüßen,
Nico Karsdorf (Möbisburger SV)

>> Meinung eines Athleten auf das GYMmedia-Interview mit Reinhard Tietz, TuS Hellersdorf 
in Auswertung der EM 2003 in Zielona Gora;
>>  - siehe auch Brief des DSAB-Vize-Präsidenten Breitensport, Dr.J. Eismann, Leipzig/Schkeuditz)

 
>> - weitere Meinungsäußerungen finden Sie im GYMmedia Board

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