09. Januar 2025  
Budapest, HUN  
Gerätturnen

Agnes KELETI - ihr letztes öffentliches Interview

Am heutigen 104. Geburtstag wird in der ungarischen Hauptstadt Budapest die bis zu ihrem Tod vor einer Woche (1. Januar) älteste lebende OLympiasiegerin Agnes KELETI beigesetzt.
Am 9. Januar 1921 in Budapest als Agnes Klein geboren wechselte sie aus Angst vor Verfolgung wegen ihrer jüdischen Herkunft 1940 den Nachnamen. Schon als Vierjährige begann sie bereits zu turnen. Mit fünf Olympiasiegen ist sie auch die erfolgreichste jüdische Sportlerin. Dank einer neuen Identität überlebte sie den Holocaust. Nach den Olympischen Spielen 1956 in Melbourne (AUS) wanderte sie nach Israel aus. Erst 2015 kehrte sie nach Budapest zurück. Sie arbeitete als Trainerin, war zweimal verheiratet und schenkte zwei Söhnen das Leben ....

Agnes KELETI im letzten Interview mit Sportreporter Gunnar Meinhardt

Gunnar Meihardt - : Frau Keleti, in Israel, wo Sie mehr als die Hälfte Ihres Lebens verbracht haben, ist nach dem Angriff der Hamas nichts mehr, wie es war. Können Sie noch ruhig schlafen?
Agnes Keleti - :
  Es ist grausam, es ist unfassbar schrecklich, was passiert. Warum, warum nur müssen Menschen so sein? Ich verstehe das nicht. Lassen Sie uns bitte über etwas anderes reden.

Sie werden als achtes Weltwunder bezeichnet. Wie gefällt Ihnen das?
A. Keleti - :  (macht große Augen) Oh, typisch die Menschen, sie müssen immer übertreiben. Was habe ich denn so Außergewöhnliches geleistet?

Jetzt geben Sie sich aber bescheiden.
A. Keleti - :
  So war ich schon immer. Ich habe mich nie wichtig genommen. Man muss doch nicht immer alles unnötig größer machen als es ist. Wenn du bescheiden bist, liebt dich das Leben.
Mit zehn Olympiamedaillen, davon fünf in Gold, und einem Weltmeistertitel sind Sie nicht nur die erfolgreichste jüdische Sportlerin, sondern Sie erkämpften Ihren Ruhm auch in einem Alter, in dem sich andere vom Leistungsturnen längst verabschiedet haben. Ihren letzten Olympiasieg holten Sie am 7. Dezember 1956 mit 35 Jahren und 333 Tagen. Das hat Ihnen bislang keine Turnerin nachgemacht. Finden Sie das normal?
A. Keleti - :
  Bin ich etwa ein anormaler Mensch? (lacht herzhaft) Für mich war es normal, sonst wäre mir das nicht geglückt. Ich wäre gerne schon früher erfolgreich gewesen, doch die politischen Umstände ließen das nicht zu. Der Krieg und die antisemitischen Gesetze kosteten mich zehn Jahre meiner Sportkarriere.

Als 16-Jährige gewannen Sie Ihren ersten nationalen Meistertitel und wurden daraufhin in die Nationalmannschaft berufen. Sie sollten 1940 bei den Sommerspielen in Tokio starten, die wegen des Krieges jedoch ausfielen. Ihre Karriere schien zu diesem Zeitpunkt beendet zu sein, nachdem Ihre Nominierung für einen Länderkampf gegen das faschistische Italien wieder annulliert wurde, weil Sie Jüdin waren. Wie sehr traf Sie das?
A. Keleti - :
  Ich war unendlich traurig, zumal keiner wusste, wie es weitergehen würde. Als Kind hatte ich mir gewünscht, Musikerin zu werden. Ich hatte Cello gelernt und spielte viele Jahre professionell nach dem Krieg, um Geld zu verdienen.
Sie hält plötzlich inne und intoniert inbrünstig minutenlang die Melodie einiger ihrer Lieblingsstücke. Danach fragt sie, ob es gefallen hat.

Warum entschieden Sie sich gegen die Musik und für die Turnlaufbahn?
A. Keleti - :
  Mein Vater wollte immer einen Sohn haben. Deshalb erzog er mich auch wie ein Junge. Wir waren oft in der Natur unterwegs, wanderten, ich kletterte auf Bäume, wir ruderten regelmäßig. Ich war ständig in Bewegung, konnte nicht ruhig sitzen. Und als Cellistin sitzt man nur, was ich nicht ertragen hätte. Ich spielte mein Instrument weiter, trotzdem dachte ich mir, es wäre besser, mich mehr dem Turnen zu widmen.

Bis Sie aus Ihrem Verein ausgeschlossen wurden und es nur noch ums nackte Überleben ging. Ihr Vater, seine Onkel und andere Verwandte wurden nach Auschwitz deportiert und von den Nazis getötet. Sie hingegen bezahlten ein christliches Dienstmädchen dafür, deren Identität nutzen zu können. Unter dem Pseudonym Yuhasz Piroshka nahmen Sie einen ländlichen Akzent an und arbeiteten in einem Dorf für eine Familie von Nazi-Sympathisanten als Kürschnerin und Haushälterin. 1944 heirateten Sie auch noch überstürzt Ihren Turnkollegen István Sárkány, weil Sie glaubten, dadurch in kein Arbeitslager geschickt zu werden. Sechs Jahre später ließen Sie sich scheiden.
A. Keleti - :
  Ja, das war so. Ich bin unendlich glücklich, diese Zeit überlebt zu haben.

Ihre Mutter und Ihre Schwester Vera, die sieben Jahre älter als Sie war, tauchten unter und wurden vom schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg gerettet, der in Budapest in einem „Schwedenhaus“ einen Platz für beide fand. Im letzten Kriegswinter heißt es, hätten Sie während der Belagerung der Hauptstadt durch die sowjetischen Truppen allmorgendlich Leichen eingesammelt, um sie zur Bestattung in ein Massengrab zu legen. Wie haben Sie das verarbeitet?
A. Keleti - :
  Obwohl alles unbeschreiblich furchtbar war, verlor ich nie mein positives Denken. Ich habe auch keine Angst, die hatte ich noch nie. Ich war mein ganzes Leben lang ein Optimist, war getrieben von der Liebe zum Leben, es gibt keinen anderen Weg. Ich sagte mir immer, der Mutige wird auch irgendwann belohnt.

Das war 1948 noch nicht der Fall, nachdem Sie Ihr Comeback auf der Turnbühne gestartet hatten, um mit einer Teilnahme bei den Sommerspielen 1948 in London Ihren olympischen Traum zu erfüllen.
A. Keleti - :
  Damals hatte ich viel Pech. Ich war qualifiziert, doch zwei Tage vor Beginn der Wettkämpfe zog ich mir einen Bänderriss im Sprunggelenk zu und musste mit ansehen, wie unsere Mannschaft die Silbermedaille erturnte.

Ihre glorreichen Zeiten folgten 1952 in Helsinki und vier Jahre später in Melbourne. Welche Ihrer olympischen Medaillen ist Ihnen am wichtigsten?
A. Keleti - :
  Sie werden sich wundern, aber ich war weniger am Gewinnen interessiert als am Reisen. Durch die Welt zu reisen, und die verschiedenen Kulturen kennenzulernen, war immer mein größtes Hobby. Auch deshalb, weil ich Krieg und Kommunismus erlebt habe. Ich wollte einfach nur frei sein und dieses Gefühl bekam ich durchs Reisen. Meine Trauminsel ist Bora-Bora, dort ist es unglaublich schön. Meine letzte Reise machte ich, bevor Corona begann, nach Barcelona. Nach Ende der Pandemie traute ich es mir längere Ausflüge nicht mehr. Obwohl, ich bin noch stark.
Indem sie das sagt, streckt sie blitzartig ihren rechten Arm vor dem Körper aus und hält mir die Hand zum Einschlagen entgegen. Nachdem ich darauf eingegangen bin, reißt sie mich fest im Griff völlig unverhofft mit unbändiger Energie zu sich heran. Dabei strahlt sie wie eine Siegerin und fragt: „Na, bin ich noch stark?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, sagt sie, dass sie zu den Medaillen noch ein für sie weniger angenehmes Geheimnis lüften möchte.

Bitte, tun Sie es!
A. Keleti - :
  Ich hatte meine Mannschafts-Goldmedaille vom Olympiasieg 1956 verloren, woraufhin eine Nachbildung angefertigt wurde. Überreicht bekam ich sie vor elf Jahren bei einer feierlichen Zeremonie von unserem damaligen Staatspräsidenten Pál Schmitt. Dabei fühlte ich mich so unwohl! Ich kam gerade aus Tel Aviv und war derart in Eile, dass ich mich auf der Toilette im Flughafen umziehen musste. In der Hektik hatte ich jedoch vergessen, meine Unterwäsche mitzunehmen. Unter meinem hübschen Kleid hatte ich also nichts an, oje, das war peinlich (lacht schallend). Zum Glück bekam das niemand mit.

Ihre ärgste Rivalin bei Ihren zweiten Sommerspielen war Larissa Latynina, die erfolgreichste Olympionikin der Geschichte. Sie lebt in der Nähe von Moskau. Haben Sie Kontakt zu Ihr?
A. Keleti - :
  Warum sollte ich?
Reizt es nicht, Sie wiederzutreffen?
A. Keleti - :
  Nein.
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Sie klingen aber verbittert. Hassen Sie Russen?
A. Keleti - :
  Sie soll bleiben, wo sie ist. Mein Trauma durch die Russen ist nicht vergessen. 1956 hat sich durch den Einmarsch der Truppen mein Leben ein zweites Mal radikal geändert. Wenn das nicht geschehen wäre, wäre ich sicherlich nicht nach Israel ausgewandert.
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Wo Sie sechs Jahrzehnte lebten, ein zweites Mal heirateten und zwei Söhne zur Welt brachten. Sie arbeiteten an der Universität Tel Aviv sowie am Wingate Institute for Sport in Netanya als Sportlehrerin und trainierten bis weit in die 1990er-Jahre die israelische Nationalmannschaft. Warum kehrten Sie 2015 nach Ungarn zurück?
A. Keleti - :
  Weil ich bei Rafael sein wollte, der auch wieder nach Budapest gezogen war. In seiner Nähe fühle ich mich am wohlsten. Daniel, mein anderer Sohn, lebt in Australien. Leicht fiel mir der Umzug aber nicht. In Israel fühlte ich mich wie im Paradies. Umso schrecklicher ist, was jetzt gerade passiert. Warum können Menschen nur so brutal sein?
Im Zweiten Weltkrieg erlebten Sie doch genügend Unmenschlichkeit. Wie begegnen Sie den Deutschen heute?
A. Keleti - :
  Natürlich war die Wut auf alles Deutsche nach dem Krieg groß. Deshalb konnte ich 1957 auch nicht in München bleiben, obwohl ich dort eine Liebesbeziehung hatte und der Mann mich heiraten wollte. Die Zeit jedoch heilte dann meine Wunden. Glauben Sie mir, wenn ich ewig verbittert gewesen wäre, wäre ich in Israel niemals so lange einen VW-Käfer gefahren. Ich tat das bis 1987. Erst als ich eines Tages durch eine Unachtsamkeit gegen die Mauer eines Supermarktes rammte, sagte ich mir, jetzt ist Schluss mit dem Autofahren.

Was gibt Ihnen die jetzige Zufriedenheit?
A. Keleti - :
  Mir geht es einfach gut. (Sie streckte beide Beine kerzengerade aus und bewegte sie schwungvoll eine Zeitlang parallel auf und ab. Dabei zeigt sie mit dem Zeigefinger auf ihre Bauchmuskeln und sagt stolz: Jetzt staunen Sie aber, oder ...?“

(c) gymmedia/G. Meinhardt

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Ja, es ist grandios, wie fit Sie sind!
A. Keleti - :
  Schauen Sie sich um, wo und wie ich wohne. Ich habe großartige Menschen, die mir helfen, wenn ich sie brauche. Ich weiß mit meiner Zeit etwas anzufangen, lese viel, aber ohne Brille, sehe im Fernsehen oft Sport, wie zuletzt die Turn-Weltmeisterschaften mit Simone Biles, sie turnte fantastisch.Täglich bin ich an der frischen Luft unterwegs, trinke sehr gerne mal ein Bier und schaue nie in den Spiegel, weil ich dann jung bleibe.
Jetzt möchte ich Ihnen aber noch etwas sagen ...:

Und zwar ...?
A. Keleti - :
  Das war mein letztes Interview! Aus meinem Leben gibt es nichts mehr zu erzählen und einmal muss ja auch Schluss sein.
Jetzt ist es so weit!
* Dieses, ihr auch laut Bestätigung ihres Sohnes letztes öffentliches Interview gab sie dem deutschen Sportjournalisten Gunnar MEINHARDT im Oktober 2023 im Alter von 102 Jahren!
* Fotos: Gunnar Meinhardt

(c) gymmedia

N A C H T R A G - :
Da sie eine Zeit lang israelische Staatsbürgerin war, sprachen israelische Medien die Frage an, ob die ungarische Olympialegende im Land beerdigt werden sollte.
Nach Auskunft ihrer Familie wird sie jedoch ihrem persönlichen Wunsche gemäß in Budapest beigesetzt, am Tage ihres 104. Geburtstages, auf dem Jüdischer Friedhof der ungarischen Hauptstadt.
Keletis Tod markiert das Ende einer Ära. Charles COSTE, ein französischer Radrennfahrer und Olympiasieger von 1948, ist nun der älteste lebende Olympiasieger.
Mehr dazu finden Sie auch in einem Artikel von Ex-ARD-Sportreporter Klaus-Jürgen ALDE auf der  > Website der Berliner Sportphilatelisten.
Ágnes Keletis Vermächtnis bleibt jedoch ewig und inspiriert kommende Generationen.

Ihre Verdienste gingen weit über den Sport hinaus; sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Fair Play Lifetime Achievement Award, den Prima Primissima Award und die Ehrenbürgerschaft in Budapest, in Újpest und Terézváros, sowie 2002 die Aufnahme in die Galerie der Jahrhundert-Turnlegenden der "International Gymnastics Hall of Fame" .

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2023 würdigte der Dokumentarfilm "Conquering Time" von Oláh Kata ihr Leben ..:


... und erhielt Anerkennung von der International Sports Press Association (AIPS).
* Youtube