100. Geburtstag!
In der Geburtsstadt des Literatur-Nobelpreisträgers Gerhart Hauptmann, in Bad Salzbrunn (damals Niederschlesien), dem heutigen polnischen Szczawno-Zdrój, wurde heute, vor 100 Jahren "Paulchen" REITER geboren. Nach einem keineswegs leichten Leben in einem bewegten Jahrhundert, begeht nun der promovierte Hochschullehrer und aktive Altersturner Dr. Paul REITER heute in Leipzig seinen 100. Geburtstag, der gleichzeitig zu einem Fest- und Ehrentag seines Heimatvereins TV Markkleeberg von 1871 gestaltet werden soll, der zuletzt Gastgeber der 22. Deutschen Senioren-Turnmeisterschaften 2022 war, und der seit vielen Jahren zur sportlichen Heimat des beseelten Gerätturners, Paul Reiter geworden ist ...:
Der Großvater und sein Enkel Michael mit der historischen Erinnerungs-Broschüre an die legendären Städte-Wettkämpfe Hamburg - Berlin - Leipzig ...
(c) Kerstin Förster
DHfK 1952: Paul Reiter, Pferd-Abgang |
So wie sein Sohn Olaf, so sind auch seine Enkel von Kindesbeinen durch Vater bzw. Großvater Paul REITER mit dem "Turn-Virus" infiziert worden.
Und die deutsche Turn-Szene kennt den langjährigen promovierten Pädagogen schon seit Jahrzehnten, denn er gehörte zu den ersten Nachkriegsjahrgängen Anfang der 50'er Jahre, denen in der DDR an der 1952 eröffneten Leipziger "Deutschen Hochschule für Körperkultur" noch ein spätes Abitur und und nachfolgend eine akademische Ausbildung ermöglicht wurde, der an nationalen Meisterschaften teilnahm, bevor er selbst fast drei Jahrzehnte lang Generationen von Studenten ausgebildet hatte ...
Und dabei stand es zuvor um die ursprünglichen Lebensumstände des Jungen Paul Reiter ganz und gar nicht zum Besten!
Geboren 1923 in Schlesien, 1929 ins Ruhrgebiet umgezogen, wurde dort Vater Paul nach der Machtergreifung Hitlers von den Nazis verhaftet und nach 18 Monaten Haft mit Berufsverbot belegt.
Keine einfache Kindheit im Bergarbeitermilieu der dreißiger Jahre (Paul junior, hinten, rechts)
(c) privat
Sohn Paul konnte dann mit 13 Jahren im Ruhrgebiet in der Zeche Scholven eine Bergmannslehre beginnen. Die von ihm betriebeneTurnerei im Turnverein Gladbeck führte zunehmend zu Erfolgen, auch weil der Vereinsvorsitzende Ernst Schiffmann als Direktor des Steinkohlekraftwerks in Scholven dem talentierten Turner eine Ausbildungsstelle zum Elektriker im Kraftwerk verschaffte, und zwar nur mit Frühdiensten, was ihm ein regelmäßiges Turntraining ermöglichte.
Die Turnriege des TV Gladbeck in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts;
Paul Reiter (1. v. li.) im Gladbecker Stadion (c) privat
So wurde Paul Reiter 1941 bereits mit 18 Jahren in die legendäre Westfalen-Riege aufgenommen, der später solche Athleten wie Adalbert Dickhut und Günter Lyhs angehörten. Höhepunkt im selben Jahr war eine Reise mit dieser Regionalauswahl nach Italien und Spanien (für jeweils 4 Wochen), mit zahlreichen Turnvorführungen, u.a. auch in der Mailänder Scala ...!
Ab 1942 folgte dann die Einberufung zur Wehrmacht und der unseeligen II. Weltkrieg führte ihn nachfolgend zu Einsätzen in Russland, später in Frankreich.
Nach Kriegsende schloss Paul Reiter die Ausbildung zum Elektriker ab - eine Qualifikation zum Meister wurde ihm wegen jedoch seiner KPD-Mitgliedschaft verwehrt.
Noch im Ruhrgebiet heiratete Paul 1951 mit 28 Jahren seine Margot und im selben Jahr erfolgte der Umzug nach Leipzig, in die DDR.
Dort in Sachsen taten sich für ihn völlig neue, unerwartete Möglichkeiten auf:
Von 1951 - 1953 erwarb der Arbeitersohn an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät (der späteren Deutschen Hochschule für Körperkultur DHfK) das Abitur und studierte danach an dieser Einrichtung.
Im Eröffnungsjahr der DHfK 1952 gehörte Paul Reiter einer ersten Hochschulriege im Gerätturnen an, startete auch bei den 20. Deutschen Turnmeisterschaften - den 5. DDR-Titelkämpfen in Karl-Marx-Stadt - war 6. im Mehrkampf und verpasste als Vierter am Reck das Podium nur knapp.
Paul war Mitglied der Leipziger Stadtauswahl und absolvierte die damals hochdotierten Städte-Vergleiche (wie z. B. Leipzig gegen Stuttgart) und stand 1952 in Leipzigs Riege im traditionellen 49. Städte-Wettkampf BERLIN - LEIPZIG - HAMBURG, ebenso wie noch einmal im Jahre 1954, bevor diese Serie dann 1957 endete ...!
Fünf Jahre nach Abschluss seines Sportstudiums erfolgte 1963, im Alter von bereits 40 Jahren, seine Promotion zu einem biomechanischen Thema des Turnens am Reck und über ein Jahrzehnt lang bildete er danach als Hochschullehrer an der DHfK Sportstudenten aus.
Von 1972 an bis zu seinem Eintritt ins Rentenalter (1989) war Dr. Paul Reiter an der damaligen Karl-Marx-Universität für den Studentensport zuständig. In der Erinnerung seiner Studentenschaft sind u. a. die vielseitige Ausbildung, insbesondere die regelmäßigen, erlebnisreichen Wasserfahrsport- und Paddelausflüge sowie Skikurse lebendig geblieben.
Der Hochschullehrer inmitten seiner Studentenschaft bei seinen beliebten Touristiklehrgängen
(c) privat
Zu Beginn seines 7. Lebensjahrzehnts pflegte er auch wieder selbst sein persönliches und regelmäßiges wöchentliches Turntraining als Mitglied des TV Markkleeberg v. 1871, von dem sowohl sein Sohn Olaf, wie auch seine Enkel Jakob Reiter und Michael Schmidt profitierten und dabei ihre wesentlichen Prägungen fürs eigene Aktivsein erhielten.
Gemeinsam mit seinen ebenso aktiven Nachkommen sah man ihn beim Training und oft auch bei Wettkämpfen, z. B. beim überaus beliebten Freyburger Jahnturnfest (< siehe Foto, links) oder Altersklassenwettbewerben und Turnfesten.
Kein Wunder, dass diese "Jahrhundert-Legende" Dr. Paul Reiter nun für seinen Markkleeberger Verein zu einer Art Leitbild-Charakter wurde, so wie auch sein etwas jüngerer Altersturn-Kollege Siegfried Bauer, die ebenso jahrzehntelang diesen Verein und dessen kameradschaftliche Atmoshäre zwischen Jung und Alt geprägt haben, und eben dran bleiben, an den Geräten, mindestens im Training.
(* Foto, rechts: Paul Reiter beim Training >)
Seinen letzten Auftritt vor Kampfrichtern hatte er 2005 mit 83 Jahren beim traditionellen 83. Jahnturnfest in Freyburg und wurde dort Zweiter..
Und dass man aus diesem Grund nun im 152-Jahre alten Verein TV Markkleeberg eine "180.Geburtstagsfeier" (???) angesetzt hat, liegt daran, dass 20 Jahre und wenige Tage später, wie Paul Reiter, ein gewisser Matthias BREHME geboren wurde, seines Zeichens ein 2-facher Deutscher Mehrkampfmeister, 8-facher nationaler Titelträger an den Geräten, Vize-Europameister am Pferd und Olympia- und WM-Bronzemedaillengewinner der 60'er Jahre.
Reiter war auch immer ein Mann der klaren Worte: „Es ist ein Drama, wie wir mit der Jugend umgehen, welchen Stellenwert der Sportunterricht heutzutage besitzt. Es fehlt an so vielem. Dabei kann ich über den Sport den Ehrgeiz wecken, jeder kann sich beweisen, es wird die Feinmotorik verbessert – generell muss Bewegung sein“, wird Dr. Reiter nicht müde, auf die Missstände hinzuweisen.
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Und eben diese außergewöhnliche, historische "Turn-Mathematik 100 + 80" aus Anlass des 100. Geburtstages von Dr. Paul REITER sowie nächste Woche des 80. von Dr. Matthias BREHME, ist den Markkleebergern eine gemeinsame Vereins- und Turn-Familienfeier wert, weil sie die folgende Sinnhaftigkeit und Logik des Sporttreibens ausdrückt:
Ohne den Breiten- und Altersklassensport ist auch ein engagierter und erfolgreicher Spitzensport in einer modernen Gesellschaft nicht denkbar!
(c) gymmedia; Eckhard Herholz
- nach Informationen von Michael Schmidt und Sabine Branser
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