02. Oktober 2019  
Stuttgart, GER  
Gerätturnen

Turn-WM Stuttgart im Wendejahr 1989

... eine deutsche Rückblende


Unglaubliche 30 Jahre ist es her, als die Schwabenmetropole die 25. Turn-Weltmeisterschaften 1989 austrug. Nach Dortmund 1966 erst die zweite deutsche Gastgeberstadt in der Turngeschichte und dies inmitten der sich damals abzeichnenden und in Folge rasant vollziehenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in der damaligen "Noch-DDR".
In den WM-Tagen von Stuttgart war da in der Zeitung mit den "großen Buchstaben" zu lesen: "Mittwoch: Honeckers letzter Arbeitstag", und während sich das kleine "deutsche Ländle" im Osten gerade aufzulösen schien, mussten da junge Leute im DDR-Trikot körperlich und mental alles geben, kannten sie doch bislang nichts anderes, als eben unter ihrer "Hammer-Zirkel-und Ährenkranz-Flagge" ihren Staatsauftrag zu erfüllen: Die Überlegenheit des Sozialismus zu dokumentieren, als "Diplomaten im Trainingsanzug"!
Doch ihre Situation glich eher der totaler Verunsicherung: Da beschworen vor Ort noch immer die Teamverantwortlichen in Presseveranstaltungen ihren "sozialistischen Auftrag und historischen Siegeswillen", legte der DDR-Delegationleiter noch die Paare für den freizeitlichen Stadtbummel durch die Stuttgarter Innenstadt fest, um sich gegenseitig im Blickfeld zu halten. Wir Journalisten am TV-Reportermikrofon hielten alles, was nicht unmittelbar zum Wettkampfgeschehen gehörte, geflissentlich `raus, aus unseren Kommentaren - so wie gewohnt - doch auch in unseren Köpfen fand nicht nur ein internationales Sportereignis statt: Und während sich zu Hause gerade das 40-jährige gesellschaftliche Experiment zerlegte - Ausgang damals eher noch ungewiss - hatten die Turnerinnen und Turner der DDR sich in "Grenzbereichen menschlicher Leistungsfähigkeiten" zu bewegen, um ihren Auftrag zu erfüllen.
Selbst noch aus heutiger Sicht eine unglaubliche psycho-motorische Situation, der man sich mal intensiver widmen sollte ...

Es ist zwar positiv, dass heute der Deutsche Turner-Bund die ansonsten so gut wie „vergessenen Leistungsgenerationen“, wieder nach Stuttgart als Ehrengäste eingeladen hat. Aber ansonsten sind diese Erfolge der einstigen internationalen Spitzen-Turnnation (!) hinter den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen dieses Zeiten- und Wertewandels nahezu vergessen worden. Wurden die von der „Klassenkampffront draußen“ Heimgekehrten in der DDR früher mit ihren Prämien und öffentlichen Wertschätzungen bedacht, mussten die Stuttgarter Helden nach der 1989'er WM sogar um ihre Prämienzahlungen kämpfen.
 „Sonst war da nicht mehr viel, die Leute hatten alle ganz andere Sorgen,“ so der Ex-Potsdamer Sprung-Weltmeister Behrend, „ich glaube, irgend jemand hat mir wohl noch eine ‚Verdienstmedaille der NVA’ (Nationale Volksarmee) umgehängt, ... ach, und Studiogast beim DDR-Fernsehen war ich auch noch, in der sog. „Halbzeitsendung“ des DFF. Der Moderator hieß damals Eckhard Herholz. Aber das war’s dann auch an öffentlicher Aufmerksamkeit.“

Klassenkampfschlachten: Ost-Frust und West-Euphorie
Heftigstes Ereignis in den denkwürdigen Oktobertagen war auch das peinliche Ringe-Fehlurteil zwischen dem Ost-Berliner Andreas Wecker und dem West-Hannoveraner Andreas Aguilar.
* Vorwurf Ost
„... der größten Betrugsskandal der Turngeschichte...!“
– weil die Akteure allerdings in umgekehrter Medaillenreihenfolge auf dem Podium standen, entgegen jeder nominaler Schwierigkeitsinhalte und auch für Laien qualitativ sichtbarer Ausführungsunterschiede!
“Absprachegemäß wären doch zwei deutsche Ringe-Weltmeister die in diesen verrückten Tagen sinnvollste Entscheidung, sogar mit historischer Tragweite gewesen“, sinniert der damalige DTV-Generalsekretär Klaus Heller heute. „Das hätten sogar wir DDR-seitig akzeptiert, obwohl sogar dagegen die objektiven Fakten gesprochen hätten! Aber verhindert hat das wohl damals der Ringe-Oberkampfrichter ...!“

* Euphorie West: Nach dem „erklärten“ Ringesieg des Andreas Aguilar (- der faire Sportsmann hatte sogar später Andreas Wecker die Übergabe der Goldmedaille angeboten...!) war man nahezu blind vor Jubel. Der Gastgeber mit einem unerwarteten WM-Sieg, der sonst seit Giengers Zeiten medaillienlosen DTB-Turner ... ließ Objektivität so gut wie gar nicht zu, keine Spur von einer selbst vagen Ahnung eines sich bald wiedervereinigenden Deutschlands...!
Kein Vorwurf! Tatsachen, wer wusste schon, wo’s hinläuft in diesen Tagen...

Historische deutsche Turnleistungen
So gesehen muss man es als historisches Erfordernis sehen, echte Leistungen vor der Geschichte anzuerkennen. Getrennt vom ideologischen Ballast die Frage: Was soll und darf Bestand haben im öffentlichen Bewusstsein?
Dies fällt der Gesellschaft in vielen Bereichen leider noch heute sehr schwer, aber es wächst des Selbstbewusstsein der Ostdeutschen, diese Analyse längst selbst vorzunehmen.
* * *
Dreißig Jahre und 20 Weltmeisterschaften später sind natürlich auch die internationalen Helden dieser ersten Stuttgarter WM nicht vergessen:
- Die unvergleichliche Mehrkampfsiegerin Swetlana Boginskaja, deren "Luftgitarre als Schlussakkord" ihrer einmaligen Bodenübung ich noch immer vor Augen und Ohren habe und die sich mit Rumäniens Daniela Silivash den Bodentitel, vor Christina Bontas, teilte ...;
- oder der Mehrkampfchampion Igor Korobtschinski aus der späteren Ukraine, der es insgesamt und später auf dreimal WM-Gold in Folge am Boden brachte.
Nicht zu vergessen der professionelle, kreative und umsichtige Organisationstab um STB-Chef Robert Baur, dessen gesamtes Team auch später diesen WM-Standort beim "DTB-Pokal" zum "Wimbledon des Kunstturnens" entwickelte und dessen umsichtige und warmherzige Pressebetreuerin Ingrid Flogaus uns Fernsehleuten das Arbeiten zur Freude werden ließ oder der höchst-geforderte damalige DTB-Pressechef Wolfgang Staiger, der in den WM-Tagen mit sehr vielen, ziemlich "komplexen deutsch-deutschen" Probleme konfrontiert war ... und noch viel mehr gäbe es zu sagen, insbesondere, was die Top-Leistungen der Athleten beträfe ....