04. November 2010
Schweiz
Gerätturnen
Kaeslins Glanz überstrahlt schmale Basis
Als am Sonntag in Zürich wieder einige der weltbesten Turnerinnen und Turner am
Swiss Cup starteten, stand auch die Schweizerin
Ariella Kaeslin erneut im Mittelpunkt, war sie doch eben bei den
Welttitelkämpfen in Rotterdam erneut als Achte des Mehrkampfes unter die besten Turnerinnen der Welt gekommen, stand dort wieder im Sprungfinale ...
Trotz vieler Bemühungen des Schweizer Turnverbandes, wie hier beim "Kidz-Day" im Swiss-Cup-Umfeld (Foto links mit Ariella):
Immer weniger Junge betreiben Kunstturnen als Leistungssport in der Schweiz, wie das Journalisten-Kollege
Christian Brüngger vom Schweizer Tages-Anzeiger analysierte, der uns den folgenden Artikel freundlicher Weise zur Veröffentlichung frei gab...:
* ... mit freundlicher Genehmigung
Domenico Rossi schwärmt, wenn er vom Kunstturnen erzählt. «Man lernt, belastbar, pünktlich, zuverlässig und zielorientiert zu sein.»
Rossi weiß aus zweifacher Warte, wovon er spricht. Der Tessiner war in den Achtzigerjahren selber im Nationalkader, jetzt ist er NachwuchsChef des Schweizerischen Turnverbands. In seiner Funktion als oberster Ausbildner aber weiss Rossi auch: Kunstturnen als Spitzensport ist bei den Jungen immer weniger hoch im Kurs. Die Zahl der Lizenzierten vor allem bei den Knaben wird immer kleiner:
2000 - 2005 - 2010
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Jungen (8-16 J.) 950 667 584
Mädchen (6-16 J.) 830 656 670
Bei den Mädchen verläuft der Rückgang weniger ausgeprägt. Das allein auf das Vorbild Ariella Kaeslin zurückzuführen, ist nicht ganz richtig, aber ihre Erfolge tragen natürlich zur Entwicklung bei.
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Claudio Capelli beim Sprung (C) Schneebeli-Wochner
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Rossi sagt darum: «Bei den Männern fehlt uns ein Idol, wie es Ariella für die Mädchen ist.»
Der Mangel an (männlichen) Vorbildern ist für Rossi nur einer von mehreren Gründen, warum der Traditionssport im Spitzenbereich der Nachwuchsstufe schrumpft. Mit Blick auf die Jungen in allen Sparten des Turnverbandes (Vereinsturnen, Trampolin, rhythmische Gymnastik usw.) ist der Schwund weniger drastisch, bleibt bei den Buben aber ausgeprägter. Gerade sie werden von grossen Sportarten wie dem Fussball stärker angezogen als die Mädchen.
Riesiger Trainingsaufwand
Die jungen Kunstturner springen früh zu anderen Sportarten ab. Ueli Schneider, Vizepräsident des Swiss Cup und Abteilungsleiter Spitzensport im Zürcher Turnverband (ZTV), kann den Wechsel klar benennen: Er erfolgt im Alter von 7 Jahren. Im jährlichen Sichtungstest des ZTV für leistungsorientierte Knaben kam der Bruch diesmal beim Jahrgang 2003. Ursprünglich war dieser am stärksten vertreten gewesen. Für Schneider ist es kein Zufall, dass die Zäsur bei den 7-Jährigen erfolgt. Er sagt: «In diesem Alter entscheidet sich bereits, ob einer leistungsorientiert kunstturnen will. Der Rest springt ab.»
Abschreckend kann etwa der zeitliche Aufwand wirken. 10-jährige Talente trainieren bereits fünf- bis sechsmal die Woche.
Domenico Rossi sagt: «13-Jährige kommen schon auf Umfänge von über 20 Stunden.» Solche Stundenzahlen erreichen in anderen Sportarten nicht einmal die Eliteathleten. Und dieser hohe Aufwand hat gemäss Schneider zur Folge, dass viele Vereine gar nicht mehr fähig sind, die besten Jugendlichen mit ausreichend kompetenten Trainern zu fördern. Zudem hat auch die Anzahl der Kunstturnvereine deutlich abgenommen. Entsprechend schwierig wird es, genügend Nachwuchs zu rekrutieren, damit die regionalen Leistungssportzentren funktionieren. Diese Zentren füllen darum mitunter das Klubvakuum gleich selber – wie etwa in den Kantonen Basel, Genf oder auch dem Tessin.
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Pablo Brägger, 3. der Junioren-EM im Mehrkampf und Reck-Finalist
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Klein, aber fein
Bloss kommt durch die Zentren eine weitere Hürde hinzu: Die Distanzen fürs Training werden für die Kinder grösser, als wenn sie im ortsansässigen Verein ausgebildet würden. Daraus ergibt sich ein zweiter Nachteil. «Weil die Jüngeren noch nicht alleine anreisen können, sind viele auf die täglichen Fahrdienste der Eltern angewiesen», sagt Rossi. Er stellt aber fest, dass viele Eltern tendenziell weniger bereit sind, einen solchen Effort für ihren Nachwuchs zu leisten. Er erklärt sich das auch mit den gesellschaftlichen Veränderungen: «Früher arbeitete oft nur der Vater, inzwischen sind es immer wieder auch beide Elternteile.» Doch die hohen Trainingsumfänge bereits in jungen Jahren sind nötig, um dereinst international auf Elitestufe glänzen zu können. Und das immer höhere Niveau zwingt auch das Schweizer Kunstturnen zu einer Professionalisierung auf Kinderund Jugendstufe, wo selbst 8-Jährige bereits in den regionalen Leistungszentren von einer grossen Karriere träumen.
Die strukturellen Herausforderungen und die schwindende Nachwuchsdichte allerdings müssen sich nicht zwingend auf die Qualität niederschlagen:
Kein Schweizer Juniorenteam war an einer EM je besser als das von Domenico Rossi 2010 mit sechs Medaillen.
* Christian Brüngger
Mit freundlicher Genehmigung: Tages-Anzeiger, 29.10.2010