10. Februar 2005
Berlin
Gerätturnen
Turnfeststadt Berlin reduziert Frauenturnförderung
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Turnen in Berlin ... unterm Sparhammer!
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Berliner Sparzwänge führen zu drastischen Kürzungen
Entgegen früherer Meldungen noch zu Beginn des Jahres streicht der Olympiastützpunkt Berlin neben 4 seiner bisher 21 geförderten Sportarten (Eiskunstlauf, Boxen, Gewichtheben, Schießen) - nun doch auch das Kunstturnen der Frauen, 'wegen mangelnder Erfolgsaussichten', und kürzt der Landessportbund auf Druck der Sparzwänge des Senats drastisch die Mittel für den Sport!
Dies ist somit das definitive Ende einer einstmals weltweit einmaligen grandiosen internationalen Berliner Turn-Bilanz....
Ingrid FÖST - einer der ersten Berliner Turn-Stars der 50iger Jahre
... kommt nun das Ende einer fast 50-jährigen Berliner Turn-Erfolgsbilanz?
Die historische internationale Dimension dieser Entscheidung
Drei Monate vor Beginn des weltweit größten Turn-Spektakels, dem Internationalen Deutschen Turnfest in Berlin, erfolgen in der deutsche Hauptstadt einschneidende, besonders auch das Kunstturnens der Frauen betreffende, Etat- und Stellenkürzungen!
>> Dies geschieht just in der Stadt, von wo aus mit der Eröffnung der Berliner Hasenheide 1811 durch Friedrich Ludwig Jahn die deutscheste aller Sportarten ihren Siegeszug um die Welt angetreten hatte, sich als älteste und traditionellste Disziplin seit 1896 im olympischen Programm behauptet und dort als modernes Kunstturnen regelmäßig TV-Spitzeneinschaltquoten erreicht.
>> Dies geschieht in der Stadt mit den meisten internationalen Turnerfolgen der Geschichte, war doch der einstige 'Dynamo-Sportclub' weltweit der erfolgreichster Turnverein. So benannten sich gar Leistungszentren in den USA und Australien nach ihm und galten über 3 Jahrzehnte lang Berliner Turnerinnen als Vorbilder ganzer Generationen.
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Karin Janz, erfolgreichste Berliner Dynamosportlerin, am Anfang ihrer Karriere zum Olympiasieg 1972
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>> Seit 1960 standen bei 9 Olympischen Spielen insgesamt 19 Berlinerinnen 21 Mal in Olympia-Gerätefinals - stellten auch ca. die Hälfte aller übrigen deutschen Starterinnen. Sie waren maßgeblich beteiligt an 4 bronzenen und einer Silbermedaille mit ihren Teams, holten 3 x Gold (2x Karin Janz, 1x Maxi Gnauck) sowie weitere 2 Silber- und 1 Bronzemedaille.
>> Bei Welttitelkämpfen der siebziger und achtziger Jahre kamen 5 der insgesamt 6 deutschen Weltmeisterinnen aus Berlin (Janz, Annelore Zinke, Gnauck, Gabi Fähnrich, Dörthe Thümmler) und gewannen 9 Goldmedaillen.
Alle 3 deutschen WM-Mehrkampfmedaillen errangen Berlinerinnen (Gnauck, Angelika Hellmann, Dagmar Kersten); 9 der insgesamt 12 deutschen Einzelgerätemedaillen gingen in die deutsche Hauptstadt und fast die Häfte aller deutschen WM-Medaillengewinnerinnen kamen ebenfalls aus Berlin.
>> Bei Europameisterschaften waren drei von vier Berliner Titelträgerinnen (Janz, Hellmann, Gnauck) und auch 9 der insgesamt 17 deutschen EM-Medaillengewinnerinnen kamen aus der Hauptstadt...
Bilanzen, die längst historische Daten sind... - wirklich nur 'Schnee von gestern'....?
So wurde die inzwischen in Deutschland arbeitslose Trainerin Maxi Gnauck erst 2000 als erste deutsche Turnerin in die 'INTERNATIONAL HALL of FAME' in Oklahoma-City (USA) aufgenommen;
2002 folgte ihr die vom Magazin 'Kicker' zuvor als 'Deutsche Jahrhundert-Turnerin' gekürteund heutige anerkannte Ärztin und Orthopädin Dr. Karin Büttner-Janz, ... weltweite Ehrungen von Berliner Weltstars!
Sind solcherart internationale Reputation und Wertschätzung nicht nur Markenzeichen, sondern auch Verpflichtung gegenüber geschichtlicher Linien einer Sportart eines Landes, einer Stadt....?
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Anke Schoenfelder: Eine Berlinerin wurde erste Gesamtdeutsche Meisterin
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... und nationale Berlin-Bilanzen?
Zu DDR-Zeiten gingen - neben den Zentren Leipzig, Dresden, Karl-Marx-Stadt, Halle, Rostock und Frankfurt/Oder - besonders zuletzt - ebenfalls die meisten Deutschen Meistertitel nach Berlin:
Allein 36 Mal (!!) - ab 1978 gar 11x in Folge - holten sich Hauptstädterinnen die nationale Vierkampf-Krone: Von Vera Matschulat-Ewald 1954, über Ingrid Föst und Birgit Radochla in den Sechzigern, zu der Generation der Janz, Hellmann, Regina Grabolle... in den Siebzigern, bis zu Gnauck, Astrid Heese... und zuletzt 1988 zu Dagmar Kersten, dominierten die Berliner 'Dynamos' eindeutig auch die nationale DDR-Turnszene, waren außerdem Weltspitze und das insbesondere fast 2 jahrzehntelang am Stufenbarren...
Die Nach-Wendezeit - ein permanenter Abstieg!
Gemessen am internationalen Niveau sank zuerst und rapide der Leistungsanspruch des Frauenturnens generell in Deutschland!
Aber nach der deutschen Einheit kam 1991 mit Anke Schönfelder auch die erste gesamtdeutsche Meisterin aus dem nunmehr in SC Berlin umbennannten Top-Zentrum deutschen Frauenturnens und stand neben der in Folge dreifachen Deutschen Meisterin aus demselben Club, Diana Schröder in Deutschlands letzter Olympiariege 1992 in Barcelona.
Neben Kathleen Kern (Stark) startete die insgesamt 8-fache Deutsche Turnmeisterin Yvonne Pioch 1996 als letzte Berliner Einzelkämpferin bei Olympia....
Insgesamt 9 der seit 1991 ausgeturnten 13 gesamtdeutschen Mehrkampftitel gingen ebenfalls nach Berlin, zuletzt 2002 und 2003 zweimal in Folge an Katja Abel,
so wie auch 25 Mal Gerätegold - von 56 Möglichkeiten in dieser Zeit.
Abgesehen von Abel waren aber bereits 1999 Katrin Kewitz und Samira Jäger die letzten nationalen Titelträgerinnen von Spreeathener Art....
Zur momentanen Berliner Leistungssituation
2004 war dann erstmals überhaupt keine Berliner Turnerin mehr bei den deutschen Meisterschaften in Chemnitz vertreten!
Die Leistungen des Nachwuchses sind momentan bundesweit nicht mehr allzu erheblich:
Es trainieren noch ca. 15 Mädchen der 3.-7. Klasse beim SC Berlin, davon haben 9 den Status Bundeskader (6x D/C; 2 C; 1 Sonder-Kader= K.Abel).
In jüngeren Altersklassen werden derzeit knapp 20 Mädchen betreut - von nunmehr nur noch 1 Landestrainer, Steffen Gödicke, aber internationales Niveau scheint für keines der Mädchen eine realistische Zielstellung zu sein....
Zudem sind auch kaum noch im Stadtgebiet zuarbeitende Vereinsstützpunkte vorhanden, wie früher der TSV Olympia, SV Preussen oder Berliner TSC; von Strausberg und Falkensee kommt kaum noch ausreichend trainierter Nachwuchs...!
Strukturabbau der letzten 15 Jahre
Wenn der Geschäftsführer des Berliner Turnerbundes Jens-Uwe Kunze gegenüber der Presse zerknirscht klein beigibt und sagt '...die Streichungen sind für uns natürlich sehr hart, aber man muß sie verstehen. Schließlich waren die internationalen Leistungen unserer Turnerinnen in den letzten 15 Jahren quasi bei ', dann ist das nicht mal die halbe Wahrheit.
Mit der politschen Wende brach das gesamte ideologie-gestützte Hinterland betreuender, den Leistungssport fördender Strukturen zusammen. Insbesondere die nicht mehr vorhandene Kinder-und-Jugendportschule bedeuteten in Berlin und anderswo - besonders hart im weiblichen Kunstturnen - den akuten Verlust ausreichender logistisch/struktureller Grundlagen für an internationalen Erfordernissen ausgerichtete Belastungsgestaltunge:
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Steffen Gödicke... der letzte der Berliner 'Turn-Mohikaner'?
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>> 1991 bis 1994 hatte man immerhin noch in Berlin vier Bundestrainer- und sechs Landestrainerstellen im weiblichen Bereich.
>> 1993 wurde die erste Bundesstelle gestrichen - Thorsten Mettke ging ins Rheinland und folgte damit Gisela Heller (1992) nach Bergisch-Gladbach.
>>1995 verblieben nach dem Weggang der Spitzen-Choreografin Angelika Hellmann noch zwei Bundestrainer - bis zum Jahre 2000 standen dahinter noch 4 Landestrainer.
>> Bis 2001war Wolfgang Riedel der letzte Bundestrainer, plus zusätzlicher dreier Landestrainerstellen...
... nach Riedels Weggang nach Chemnitz ist nunmehr 2005 nur noch 1 (!) Landestrainer, nämlich Steffen Gödicke übrig....(!!), dem vielleicht noch stundenweise bezahlte Honorartrainer zur Verfügung stehen....
Gymnaestrada statt Olympiade...?!
Hier liegt der eigentliche Knackpunkt des einschneidenden, aktuellen Beschlusses: Dass von bislang 4 Trainerstellen noch 2004, in diesem Jahr nur noch eine übrigbleibt!
Kurioser Weise ist dabei der LSB-Präsident Peter Hanisch in Personalunion gleichzeitig Berliner Turn-Präsident (!) und paraphiert damit entscheidend (- wider besseren Wissens ? -) das definitive Aus des leistungssportlichen Frauenturnens in Berlin, das zuvor schon den DTB-seitigen Abbau aller Bundestrainerstellen mit schier irreversiblen Schäden erdulden musste!
Was sollen dann noch die Beteuerungen von BTB-Geschäftsführer Kunze, 'dass ja immerhin noch das weibliche Landesleistungszentrum (für 2 Jahre) bestätigt wurde, und sonst ja die LSB-Zuwendungen kaum gestrichen werden...':
Internationale Zielstellungen mit Berliner Nachwuchs zu stellen, ist mit den geschilderten Umständen eigentlich kaum noch realistisch, ja wären nahezu unverantwortlich!
Es ist das widersinnige Prinzip der derzeitigen deutschen Spitzensportförderung, das beim Ausbleiben der Erfolge 'oben', im Spitzenbereich, Streichungen der Förderstufen vornimmt, also 'unten' die Mittel reduziert werden, wo nun mal insbesondere in Turnen und Eiskunstlaufen zu 80 Prozent d o r t die Leistungsgrundlagen von morgen gelegt werden müssen!
So ist es nur allzu 'gesetzmäßig', dass man bei Beibehaltung dieser - den Tatsachen und Erfordernissen anspruchsvoller, komplexer technisch-kompositorischer Sportarten widersprechender - Förderregeln, vom definiven Ende des internationalen Anspruchsdenkens im Kunstturnen der Frauen sprechen muss - hier in Berlin und anderswo in Deutschland....
... es sei denn, man enscheidet sich in auch hierzulande zu gänzlich anderen Mechanismen und Strukturen privat-wirtschaftlicher Natur. Doch die sind - nüchtern betrachtet - absolut nicht in Sicht.
Eckhard Herholz / GYMmedia
>> Lesen Sie dazu auch über
Trainerstellenabbau in Berlins Männerturnbereich,
ein Beitrag von BRB-Vizepräsident Sven Karg.