26. August 2004
Olympiastadt Athen
Gerätturnen
Wertungseklat: Arkajew spricht von Mafia der Kampfrichter
Angesichts der Wertungsskandale bei den olympischen Männerwettbewerben forderte der erfolgreichste Trainer der Welt, Leonid Arkajew, durchgreifende Reformen. In einem Interview erklärte der Russische Turnpräsident: 'Es muss dringend etwas passieren! Vielleicht sollte ich das nicht sagen, aber wir haben eine Mafia der Kampfrichter', und bezog sich da besonders auf die Bewertung der Reck-Kür des Russen Alexei Nemow.
Auch der ehemalige FIG-Präsident Juri Titow sprach von einem Skandal und forderte schleunigst Videoüberprüfungen...
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Eckhard Herholz - GYMmedia
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Ronny Ziesmer und die Athener Turnbewertungen
Ein Kommentar von Eckhard Herholz
Ursächlich hat natürlich der verunglückte Turner im Berliner Unfallkrankenhaus, Ronny Ziesmer, nichts zu tun mit den Turnnoten in der Olympic Indoor Hall von Athen, außer, dass er sie auch mit Erstaunen am Bildschirm zur Kenntnis genommen hat, und es im ersten Kommentar sehr bedauerte, dass man mit einem schweren Fehler beim Sprung gegen einen fehlerlos turnenden Koreaner olympisches Mehrkampfgold bekommen kann...
.. dann aber noch die Hochwertung des griechischen Start-Turners Tampakos - der so inzwischen zum 'Star-Turner' aufgestiegen ist und somit - natürlich persönlich ungewollt - die souveränere Ringeleistung des Weltmeisters Jowtschew aufs Gröblichste beleidigte - übertroffen gar noch durch einen nie zuvor dagewesenen Eklat im Reckfinale durch selbst durch bestehende Regeln nicht nachvollziehbare Aktionen am Wertungstisch und in den obersten Wertungsgremien der FIG ...! Da platzte selbst einem sonst sehr fairen und die meisten Leistungen höflich honorierenden olympischen Publikum der Kragen...!
Doch es gibt da bedeutsamere moralische Dimension dieser Fälle.
Angesichts solcher Athleten wie Ronny Ziesmer, oder Alexei Nemow oder Jordan Jwtschew, die in dieser Hightech-Disziplin wahrlich in jeder Sekunde ihres Tuns in Training und Wettkampf ein hohes Risiko eingehen, um ihr Leistungsvermögen für den Höhepunkt zu perfektionieren, wäre es eine moralische Schande, wenn ihnen dann gewissenlose Elemente mit dem Brev?t (Internationale Kampfrichterlizenz) in der Tasche am Podium gegenüber sitzen, die aus niederen oder egoistischen Gründen Manipulationen vornehmen sollten. Wie auch immer, denn es ist ja auch kein ausschließlich aktuelles Thema, nur weil es nun mal hier wieder auf olympischem Podest in aller Öffenlichkeit im grellen olympischen Lichte kulminierte:
Die FIG ist dringlichst augefordert, solcherart Missachtung der Leistungen der Athleten und den Beleidigungen ihrer Persönlichkeiten einen Riegel vorzuschieben - das ist ihr eigentlicher Auftrag!
Eckhard Herholz, gymmedia
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Thomas Hayn (AUT) Internationaler Kampfrichter
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Anmerkungen zu den „Turnskandalen“ bei den Olympischen Spielen
von Thomas Hayn, Internationaler Kampfrichter, Mitglied des Präsidiums des Österreichischen Fachverbandes für Turnen' ÖFT
Nachdem ich nunmehr die Berichterstattung über die diversen Eklats im Kunstturnen (leider gab es ja mehrere) - insbesondere die Reck-Entscheidung - gelesen habe, habe ich das Bedürfnis, eine differenzierte Stellungnahme abzugeben:
Das Krisenmanagement der F.I.G.
Problematisch - das soll vorweggestellt werden - ist jedenfalls das Krisenmanagement der FIG, andererseits aber auch (zumindest teilweise) die bisherigen Regelungen.
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Paul Hamm, Weltmeister, Olympiasieger
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1.) Der Fall Fall Hamm / Kim: -- Dieser Fall umfasst mehrere Aspekte:
>> Erstens wurde der Fehler der A-Kampfrichter (nach meinem Kenntnisstand) von diesen sofort erkannt und eingestanden. Bei jedem kleineren Wettkampf (aber auch bei kleineren Internationalen Turnieren) ist es üblich, den Ausgangswert in einem solchen Fall sofort zu korrigieren. Stattdessen wurden die Koreaner vertröstet, im Endeffekt musste auf Grund der geltenden Regelungen und des durch die FIG verursachten Zeitverzugs die Entscheidung fallen, keine Änderung vorzunehmen. Dass eine Änderung, auch sofort nach dem Wettkampf, bei entsprechender Fernsehübertragung nicht so leicht erklärbar ist, ist zwar richtig. Der Erklärungsbedarf ist jetzt im Nachhinein aber ein viel größerer!
>> Zweitens ist es für mich ein nicht nachvollziehbarer Aspekt, dass Ausgangswerte bei entsprechendem Nachweis (z.B. Video) im Nachhinein nicht geändert werden können. Der Verweis auf den Fußball ist nur bedingt zulässig, da ein Tor im Fußball den gesamten Spielverlauf direkt beeinflusst, was beim Turnen zwar indirekt der Fall sein kann, aber eben nicht direkt erfolgt. Die Möglichkeit, gegen eine Wertung Protest einzulegen, sollte allerdings auf den Ausgangswert beschränkt sein und die Anerkennung von Elementen nicht umfassen, da dies zu einem Ausufern der Protestmöglichkeiten führen würde.
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Nemow mit 6 Flugelementen...
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Das heißt: Wenn der Kari meint, es wurde ein 'Morisue' geturnt, obwohl es ein 'Belle' war, sollte ein Protest möglich sein, nicht jedoch, wenn der Kari meint, eine 'Schwalbe' an den Ringen sei so kurz gewesen, dass sie nicht mehr als Element anerkannt werden kann. Jedenfalls ist ein restriktiver Gebrauch des Protestes unbedingt erforderlich.
2.) Der Fall Nemow: -- Wie bereits angedeutet, sollte ein Protest gegen die B-Note nicht erlaubt sein, da sonst jeder gegen eine unliebsame Wertung protestieren würde und man nach jedem Wettkampf den Ausgang der unzähligen Proteste abwarten müsste. Ausgangswerte sind viel leichter objektivierbar als B-Noten.
Desweiteren ist dazu auszuführen, dass die Reck-Übung von Nemow zwar äußerst spektakulär und schwierig ist, dass die Übung von z.B. Hamm aber zwar nicht spektakulär, wohl aber schwierig ist. Beide haben den höchsten Ausgangswert von 10 Punkten.
Entscheidend für die Reihung ist somit nicht, was geturnt wird, sondern wie es geturnt wird. Leider sind Entscheidungen im Bereich von Bruchteilen von Zehntelpunkten mit dem freien Auge auch für den Experten oft nicht mehr nachvollziehbar. Der Ausgang sämtlicher Gerätefinalentscheidungen macht wieder einmal die Unzulänglichkeiten der Wertungsvorschriften deutlich: Im Spitzenbereich ist – entgegen der Ankündigung bei der Schaffung des Code – keine nachvollziehbare Differenzierung der besten Übungen möglich.
Nach oben offene Wertung
Der richtige Weg wäre es, den Ausgangswert nach oben offen zu gestalten. Dann hätte Nemow mit einer entsprechend schwierigen Übung das eine oder andere Zehntel gegenüber z.B. Hamm an Vorsprung über den Ausgangswert herausarbeiten können. Das ist bei der Ausarbeitung der derzeit gültigen Wertungsvorschriften auch diskutiert aber deshalb nicht umgesetzt worden, da es die Kampfrichter überfordern würde.
Weiters wäre es im Sinne der Attraktivität des Turnsportes jedenfalls notwendig, spektakuläre Flugelemente am Reck (oder auch Schwungelemente an den Ringen) im Vergleich zu wenig attraktiven Drehungen in den oder aus dem Ell-Griff (oder Kraftelementen an den Ringen) aufzuwerten.
Zur Rolle des TK-Vorsitzenden
Völlig falsch und von einem absolut schlechtem Konfliktmanagement geprägt war die Reaktion von Adrian Stoica, den Vorsitzenden der Jury Sawao Kato zu einer Änderung zweier B-Noten zu bewegen. Da haben die FIG und das TK vollkommen recht: Kampfrichterentscheidungen bezüglich der B-Note müssen Tatsachenentscheidungen bleiben. Schließlich gibt es acht B-Kampfrichter, die Wahrscheinlichkeit, dass es dabei zu einem falschen Ergebnis kommt, ist äußerst gering (wird aber nie auszuschließen sein – leider kann das Turnen nicht vollkommen objektiv, nämlich in Sekunden, Metern o.ä., gemessen werden).
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Swetlana Chorkinas letzte Bodenkür....
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3.) Der Fall Chorkina:-- In diesem Fall mag es so sein, dass sich Chorkina benachteiligt fühlte. Tatsache ist aber, dass im Mehrkampf Chorkina zwar die klar bessere Barren- und Sprungleistung gezeigt hat, dass aber sowohl ihre Balken- als auch ihre Bodenübung farb- und freudlos und vor allem fehlerhaft präsentiert wurden. Das Ergebnis scheint mir hier jedenfalls gerechtfertigt.
4.) Der Fall Tampakos / Jowtschew: -- Sollte Tampakos tatsächlich, wie von den Bulgaren behauptet, einen geringeren Ausgangswert als Jowtschew haben, sei auf die Ausführungen zum Fall Hamm verwiesen. Es ist dazu noch anzumerken, dass natürlich die Gastgebernation immer einen gewissen Heimvorteil geniest. Es war also von vornherein klar, dass mit Tampakos zu rechnen sein würde.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die FIG – insbesondere im Fall Hamm / Kim jedenfalls schlecht und unnötig bürokratisch reagiert hat. Die Kampfrichter wären ja bereit gewesen, ihre A-Note zu korrigieren. Die Kampfrichter aus Spanien und Kolumbien (die Rolle von Beckstead ist mir nach wie vor unklar...?) zu suspendieren, stellt jedenfalls eine unnötige Härte gegenüber diesen dar, zumal sie offensichtlich nicht die Absicht hatten, irgendjemanden zu bevor- oder benachteiligen.
Die FIG sollte ihre Fehler (nicht die der Kampfrichter) als solche anerkennen und versuchen, daraus zu lernen, und möglichst rasch Schritte setzen die derartige Vorkommnisse verhindern. Derartiges wirft ein äußerst schlechtes Licht auf den Turnsport, welcher ohnehin nicht über das beste Image in der Öffentlichkeit verfügt.
Thomas Hayn, Österreich >> In einem NZZ-Interview spricht der Schweizer inzernationale Kampfrichter
Cornel Hollenstein von einem
'Tiefpunkt des Kunstturnens'