Erinnert man sich an die skandalösen Vorgänge im System des US-amerikanischen Kunstturnens, an die anklagenden Berichte aktiver oder ehemaliger Turnerinnen in Großbritannien oder den Niederlanden, so gewinnt man derzeit bei den in den letzten Tagen und Wochen auch von Schweizer Medien großflächig dargestellten Turbulenzen den Eindruck, dass da eine komplette Sportart auf der Anklagebank zu sitzen scheint ...!?.
Natürlich war und ist es hohe Zeit, wenn Schutzbefohlene endlich ihre Angst überwinden, den Mut aufbringen über Missbrauch, Verfehlungen oder Verletzungen der Körper, der Seele oder Würde durch Trainer*Innen offen zu sprechen! Schlimm genug, dass es solche verurteilenswerten Verfehlungen Erwachsener im Umgang mit Heranwachsenden, mit Schutzbefohlenen, gibt ...:
Natürlich gehören deren Schilderungen und Anklagen auch die ganze öffentliche Aufmerksamkeit - aber mehr noch: Die wirksame Mobilisation des Gesamtsystems, im Spitzen- wie im Breitensport, zur Ursachenbeseitigung, ist hier gefordert!
Doch wie so oft - und ganz besonders im derzeit gerade erst beginnenden Digitalzeitalter - werden zugleich regelrechte Kampagnen aufgeblasen und Einzelfälle (- mögen sie noch so berechtigt und traurig sein) zur Totalverurteilung einer gesamten Sportart verwendet.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Nichts soll dabei in Zweifel gezogen werden! Jeder Einzelfall von moralischen oder ethischen Grenzüberschreitungen, ist ein Fall zuviel. Jeder und jede Betroffene muss ermutigt werden, in Offenheit und rechtzeitig vom System des Sports einer Gesellschaft Schutz und Hilfe zu erfahren!
Dennoch: Die überwältigende Mehrzahl der Sportlerinnen und Sportler im ambitionierten Spitzensport macht andere, macht positive Erfahrungen.
Die überwältigende Mehrheit der Trainerinnen und Trainer, Übungsleiter und Sportfunktionäre besitzt zu Recht deren hohe Achtung und Wertschätzung!
Deshalb: Nicht einzelne Sportarten oder gar der gesamte Berufsstand der Trainer gehören auf die Anklagebank!
"Nicht das System ist das Problem. Sondern der Umgang mit Menschen".
So postuliert z. B. der Leiter Spitzensport des renommierten Schweizer "Aargauer Turnverbandes" seinen Einwand in der Schweizer Presse:
► Aargauer Turnverband wehrt sich gegen Generalverdacht.
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So reicht es aber auch nicht, wenn Sportverbände bei schweren Vorwürfen und Verfehlungen überführte und betroffene "Täter" einfach (nur) eleminieren, suspendieren oder entlassen. Meist geht es danach weiter, wie zuvor.
Es müssen die Strukturen und Umfelder, die zu Ethik- und Moralverstößen führen, hinterfragt werden:
♦ Reichen pädagogische, psychologische und/oder tariningsmethodischer Kenntnisse der Trainer aus, um sich mit Kindern und Jugendlichen auf den langen Weg in Richtung Leistungsgrenzen begeben zu können?
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♦ Gibt es neben Lehrgangsformen der Verbände zur Weiterbildung ausreichend hochqualifizierte akademische Ausbildungsstrukturen für Trainer im ambitionierten Wettkampf- oder Spitzensport?
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♦ Steht den Nachwuchs-, Talente- und Perspektivkadern, die in professionelle Spitzensportbereiche geführt werden sollen, genügend hauptamtliches und geignetes (professionelles) Personal - inklusive wissenschaftlicher, ernährungstechnischer und medizinischer Betreuung - zur Seite (fördern, nicht nur fordern!).
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♦ Wie honorieren die Verbände oder Vereine derart hochqualifizierte Spitzenkader des Wettkampfsports durch ausreichende und längerfristige Verträge und Stimuli?
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♦ Haben Ethikkomissionen der Verbände oder anderer Strukturen ausreichend unabhängige Kontroll- und Aufsichtsmöglichkeiten, um "den Anfängen zu wehren" und Gefährdungssituationen früh zu erkennen? Dies betrifft auch die Einschätzung des physichen und moralischen Drucks der Athleten, die im Bereich internationaler Herausforderungen stehen. (Gibt es Ombudsfrauen oder -männer mit ausreichender "Reißleinenkompetenz" für akute Gefährdungsfälle?).
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Schon gar nicht darf es sein, dass die Gesellschaft, auch für deren Anerkennung die Spitzensportler mit ihren Leistungen nationale Wertschätzung erkämpfen, diese aber oft mit ihrem individuellen Risiko alleine lässt!
→ Ergo:
Man höre auf, die einzelnen Sportarten oder gar den ganzen Spitzensport an sich in Frage zu stellen, sondern erkenne und bekämpfe deren Missbrauch!
So sind z. B. das Kunstturnen, die Rhythmische Gymnastik, das Trampolinturnen und all die anderen akrobatischen Turn-Disziplinen hochkomplexe, ästhetische und wertvolle Bestandteile einer modernen Körperkultur - es verbietet sich einfach, sie pauschal zu verunglimpfen oder sie als Ganzes an den Pranger zu stellen!
Der Fokus der Gesellschaft sollte vielmehr auf die Qualifizierung und Qualitätssicherung der pädagogischen, psychologischen Prozesse und auf ausreichende Umfelder und Bedingungsgefüge gerichtet werden!
♦ Und deshalb, noch einmal:
"Nicht das System ist das Problem. Sondern der Umgang mit Menschen"!
(C) GYMmedia / Eckhard Herholz
Fotos: (C) MINKUSimages
* Lesen Sie in diesem Zusammenhang auch den
► "offenen Brief" des Zentralpräsidenten des Schweizer Turnverbandes, Erwin Grossenbacher an seine STV-Mitgkieder als eine Reaktion auf unlängst veröffentliche Vorwürfe von Kunstturnerinnen und der Rhythmischen Sportgymnastik in der Schweiz, sowie
► den Offenen Brief der Schweizerischen Nationalteams Kunstturnen (15.11. 2020)
* (C) gymmedia / -ehe-
... und wie sehen Sie das?
Ihre Meinung ist gefragt unter:
⇒ office@gymmedia.de
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*18-Nov-2020
"Es macht keinen Sinn, eine bestimmte Sportart an den Pranger zu stellen. Es geht auch nicht darum, das Ausüben des Sports in seinen vielseitigen Facetten in Frage zu stellen. Gewaltpotenzial gibt es überall. Und genauso überall und ständig werden Gewalttaten verübt. Oftmals, ohne dass sie je gemeldet werden. Damit bleiben sie unentdeckt, versacken in einer riesigen Dunkelziffer. Wenn jemand die Klappe aufmacht, wird die Meldung häufig nicht gehört, nicht ernst genommen. Oder es fehlt bei den Verantwortlichen schlicht an der Kompetenz, damit umzugehen. Weil es versäumt wurde, diese Kompetenz aufzubauen. Das ist ein strukturelles Problem. Noch immer finden sich in leitenden Funktionen Personen mit einer beeindruckend hartnäckigen Naivität, die sich dem Thema einfach nicht stellen. Die Gewalt verharmlosen, die Gewalt verleugnen. "Uns betrifft das nicht", "das passiert nur woanders", "naja, so eine kleine Grenzüberschreitung, der/die wollte doch nur nett sein, nun stell dich halt nicht so an", ...
Rosarote Brillen haben eine unglaublich gute Passform.
Im Gegensatz zu Erwin Grossenbacher scheint Eckard Herholz es nicht begriffen zu haben, dass im System angesetzt werden muss.
Bitte!! - hört endlich auf, diese Fälle als "Einzelfälle" zu bezeichnen."
Beste Grüße, Heidi Wehrmann
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… danke, Frau Wehrmann, für Ihre Zuschrift!
Aber was mich als Autor des obigen Kommentars betrifft, scheinen Sie mich falsch verstanden zu haben:
Natürlich ist es auch ein „Systemfehler“, wenn es zu solchen Verfehlungen im Umgang mit Schutzbefohlenen kommt!
Natürlich gehören jedem dieser Fälle die höchste Aufmerksamkeit und Hilfe …!!
Ich habe mich ausschließlich gegen den medialen Kampagnencharakter gewandt, der in solchen Fällen den gesamten Berufsstand der Trainer oder das gesamte leistungssportliche Betreiben der ganzen Sportart an den Pranger stellt.
Dazu kenne ich aus eigener beruflicher Erfahrung im Umgang mit Turntalenten zu viele außerordentlich verantwortungsbewusste Kolleginnen und Kollegen – tatsächlich eine Mehrheit (!!), die keinesfalls pauschal auf die Anklagebank gehören.
Tatsächlich aber sind mir – und dies waren wirklich Einzelfälle – auch "eigenartige" und für den Trainerberuf charakterlich absolut ungeeignete – „Leute“ begegnet, vor denen man tatsächlich Sporttreibende schützen muss.
Und noch schlimmer: Auch ich habe und hatte Kontakte mit ehemaligen Top-Sportler*Innen, die nicht unbeschadet an Körper, Geist und Seele auf ihre ehemalige Leistungssportzeit zurückblicken können.
Und hier bin ich völlig bei Ihnen: Ja, das sind auch „Systemfehler“ im Leistungssport, denen man durch Transparenz und Kontrolle (Ethik-Kommissionen o.ä.) dringlichst und konsequent begegnen muss, b e v o r Schaden angerichtet wird!!
Sollten Sie den Eindruck haben, dass ich die Problematik als unerhebliche Einzelfälle“ abtun wollte, irren Sie:
Konsequente Verhinderung, ist da angesagt, und da muss man in der Tat das „System“ hinterfragen!
… so hab ich das darstellen wollen!
* Eckhard Herholz / GYMmedia
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*16-Nov-2020
"Als ich vor 20 Jahren Teil des Systems war, waren Themen wie „Umfeld der Angst und des mentalen Missbrauchs“ oder "Drohungen, Beschimpfungen, Psychospiele“ bereits aktuell. Es hat sich bis heute rein gar nichts geändert. Wir sprechen auch heute nicht von Einzelfällen. Egal welches Land, egal welche Regierungsform, egal welcher Sport - die Vorwürfe bleiben die gleichen. Es liegt am Leistungssport-System an sich. Solange das Ziel ist, Medaillen zu erreichen und der Trainer - im Hauptberuf - seine Miete mit diesen Medaillen bezahlen muss, solange werden diese Probleme bleiben."
Yannick Weislogel, Deutschland;
* 15-Nov-2020
Ja schaun's, wie überall, so auch in Coronazeiten. Wenn die Medien weniger zu berichten haben, jagen sie mal wieder eine Sau durchs Dorf. Solche Kampagnen sind einfach nur bedauerlich. Endlich melden sich mal die Insider von der Schweizerriege zu Wort, die verstehen, was Spitzensport bedeutet, weil sie ihn selber machen!
Urs Gasser, Basel
* 13-Nov-2020
Es ist doch so: Wenn jemand was zu kritisieren hat, stürzen sich die Medien drauf: Schrill, schriller am schrillsten. Davon liest und hört man eine Menge. Da fehlt aber das Gleichgewicht: JA - schützt die Schwachen und Schutzlosen! Aber NEIN - nicht um den Preis der Vernichtung wertvollen Gutes und der Sport ist sowas, nämlich wertvoll, besonders seine Vielfalt. Deswegen verstehe ich die Medien nicht, die alles so sehr auf das was sich rechnet ist, verknappen. Und dann wundern sie sich, wenn Quoten ausbleiben: Tja, wenn man vieles immer nur aller vier Jahre auf Olymia reduziert. Mir fehlt die Vielfalt im Sportalltag und deshalb muss man auch das vielfältige Turnen in Spitze und Breite schützen und nicht verunglimpfen! Schützen aber auch vor Leuten (und Trainern) die es einfach nicht können!
Theresa Liebig; München
* 12-Nov-2020
... mein Standpunkt zu unserer Trainer-Ethik: Auch wenn es in allen Bereichen des menschlichen Daseins immer perverse und kranke Täter geben wird, gibt es ein Berufsethos als Gesetz des Handelns. Egal wie alt meine Athleten waren - sie waren immer meine SCHÜTZLINGE! Und da gibt es auch keine Unterschiede im Training mit Frauen oder Männern. Übrigens erarbeiteten wir unsere Trainingspläne nicht nur individuell ausgerichtet auf die sportliche Perspektive, sondern auch in den Anforderungen an die Persönlichkeitsentwicklung zum WOHLE der uns anvertrauten Athletinnen und Athleten. In unserer so komplexen Sportart tragen wir täglich Verantwortung für die Gesundheit und Unversehrtheit der Turnerinnen und Turner und deren Freude und Bereitschaft zu höchsten Belastungen. Da ist viel LIEBE im Spiel- LIEBE ZUR SPORTART!
Dieter Petersdorf / ehem. Turntrainer
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* 10-Nov-2020:
..... Im Moment hat man wirklich das Gefühl, dass man als Trainer ein böser Mensch ist. Der Grossteil der Trainer machen aber mit viel Herzblut, Hingabe und Engagement ihre Berufung und setzen die Athleten in den Mittelpunkt. Der Umgang mit den Kindern, die Freude und Passion der wundervollen Sportart Turnen, das Streben nach neuen Elementen und Zielen, sowie die Zusammenarbeit mit dem Umfeld macht diese Arbeit als Trainer so wundervoll.
Christian Grossniklaus /Cheftrainer RLZ ZH; Kunstturnen Männer
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Es ist gut, wenn betroffene Sportlerinnen rechtzeitig den Mut aufbringen, sich zu äußern. Wo aber sind mal Meinungen von Athleten, die voll hinter ihrer Sportart und genauso hinter ihren Trainern stehen? Da hätte ich mal gern 'n paar Argumente mehr, denn meine Sportart ist und bleibt die beste!
Sandra Michler / Deutschland
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Im Spitzensport ist's wie im Handwerk: Auch wenn viele mit Holz umgehen: Holzhacker können keine Klaviere bauen! Deshalb brauchts nicht nur Supercharaktere, sondern Spitzenausbildung im Trainerberuf. Da liegt's m.M. nach aber im Argen!
Gerd-Olaf Höxter / Deutschland
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