30. Januar 2021  
Berlin, GER  
Gerätturnen

BMI lehnt Einsicht in Untersuchungsbericht ab

Nach einer Anfrage des Deutschlandfunks beim Bundesinnenministerium betreffs des Inhalts der "neutralen Untersuchungskommission" bezüglich der Gewaltvorwürfe im Chemnitzer Turnstützpunkt, teilte das BMI mit, das man dort den Originalbericht nicht kenne, weil der Bericht der Kanzlei nicht öffentlich sei (?) und man demzufolge "dem Deutschen Turner-Bund" vertraue...!?  Aus der Sicht aller Chemnitzer Kaderturnerinnen, ihrer Eltern sowie der Vereinsführung des TuS Chemnitz-Altendorf, die sich allesamt mit schlüssigen Argumenten hinter die betroffene Trainerin gestellt haben (s. u.), ist man " ...ob dieser Haltung und der mangelnden Transparenz fassungslos...", fühlt sich nicht enst genommen und empfindet dies als einen Affront gegen ihre begründete Haltung!
Bundesinnenministerium will Untersuchungsbericht nicht einsehen  (Quelle: DF)
.
* Lesen Sie dazu auch :

►► Statements der Chemnitzer Turn-Elternschaft,
 - die bereits im Dezember als erste Antwort auf die SPIEGEL-Veröffentlichung
   gemacht wurden,
.
* ... und die seit 25. Jan. unserer Redaktion vorliegende
 ►► STELLUNGNAHME der Chemnitzer Turn-Elternschaft
  - als Reaktion auf die letzte Woche per Pressemittelung veröffentlichte
    DTB-Stellungnahme zur Chemnitzer Konfliktsituation.

 

♦♦ "Systemische Gewalt, Psycho-Terror" und eine Trainerin am Pranger
      - von Dieter Petersdorf, Jena


Im Turn- Bundesstützpunkt Chemnitz explodierte im November 2020 eine "Bombe", ausgelöst durch einen SPIEGEL-Beitrag unter Berufung auf Aussagen der Turnerin Pauline Schäfer, Ex-Weltmeisterin am Balken. Es geht um Vorwürfe gegen die Trainerin Gabriele Frehse und deren angeblich "missbräuchlichen Trainingspraktiken, Beleidigungen und Methoden psychischer Gewalt“, für unzählige Medien Stoff zu weiteren aktuellen, weltweiten Problemfällen im Spitzensport, nicht nur im weiblichen Turnbereich. Ein heikles, aber auch hoch berechtigtes Thema.
Das Turnportal GYMmedia sah sich verpflichtet – aus interner Fachkenntnis der Sachlage vor Ort  sich dieses Themas chronologisch, kritisch und wertend anzunehmen, um die unzureichend ausgewogene Problemdarstellung im SPIEGEL eines aber zweifelsfrei vorhandenen Grundproblems im Spitzensport auszugleichen. Den Hans-Joachim Friedrichs-Ehrenpreis für Journalisten wird man zwar dafür (leider) sicher nicht erhalten, (Friedrichs: „Mache dich nie gemein mit einer Sache- auch nicht mit einer guten.“ ), denn zu kompliziert ist dafür die Sachlage:
Denn die „Bombe von Chemnitz“ zu entschärfen ist schwieriger, als die Aufgabe eines Kampfmittel-Räumdienstes!
Da sind auf der einen Seite die vorwiegend im o. g. Artikel einseitigen Anschuldigungen gegen die Trainerin - nach leider um sich greifenden "copy & paste-Metoden" - witestgehend  unkritsch verteilt und z- T. in hohem Maße unsachlich "ver-social-networked" worden, ... denen aber die bemerkenswert gegenteiligen Aussagen und Proteste aller 25 aktuellen Turnerinnen und deren Eltern gegenüberstehen! Auch der Präsident des Vereins TuS Chemnitz-Altendorf, Frank Munzer, „will seine Trainerin nicht wie eine Aussätzige vom Hof jagen“ lassen, die beim Olympiastützpunkt Chemnitz angestellt ist.


ANMERKUNG:
In einer sicher auch von Ex-Weltmeisterin Pauline Schäfer unterzeichneten "ATHLETENVEREINBARUNG des Deutschen Turner-Bundes" heißt es dort unter § 5.14:
"Der Athlet/die Athletin verpflichten sich, Probleme zunächst mit den direkt Betroffenen und/oder den im DTB Verantwortlichen zu lösen und öffentliche Kritik sachlich zu äußern. Sie verpflichten sich, die Werte und Zielvorstellungen des DTB mitzutragen und durch Auftreten, Erscheinung und Verhalten Repräsentanten des DTB und der Bundesrepublik Deutschland zu sein."
Dies war aber vor drei Jahren in Verbindung mit einer Abmahnung der Trainerin bereits geschehen und damit abgeschlossen!

... und an anderer Stelle unter § 6: Vertragsverletzungen heißt es u. a.:
"Bei Streitigkeiten, die sich aus diesem Vertrag ergeben, verpflichten sich die Vertragsparteien zunächst den Vorstand „Olympischer Spitzensport“ unter aktiver Einbeziehung der jeweiligen Aktivenvertretung ihrer Disziplin anzurufen, um eine einvernehmliche Klärung herbeizuführen."
Somit löst die im Nachgang von Frau Schäfer bevorzugte erste Wahl der Mediendarstellung ihrer Vorwürfe ziemliche Verwunderung aus, stellt es doch schlicht einen Verstoß gegen diese DTB-Regel dar!
    - die Redaktion


Damit ist auch der Deutsche Turner-Bund in einer misslichen Lage!
Er hat zwar reagiert aber ist dabei nun auch unglücklich zu agieren. DTB-Präsident Alfons Hölzl entschuldigte sich aufrichtig: „Eine Goldmedaille bei Olympischen Spielen hat langfristig keinen Wert, wenn der Turner nachher beschreibt, welches Leid er erfahren hat...Wir müssen uns als Gesellschaft Fragen stellen, welchen Spitzensport wollen wir überhaupt?“ Das aber ist auch ein weltweites Problem!
Der DTB hat nun zur Klärung eine Anwaltskanzlei beauftragt und den Chemnitzer Arbeitgeber beauftragt, die Trainerin zu entlassen. Wurde in dem ganzen Prozedere die beschuldigte Trainerin nicht schon vor drei Jahren ausreichend angehört oder bekam sie nicht ausreichend Gelegenheit zur Gegendarstellung? Eine fatale journalistische und rechtliche Kalamität. Dabei lernt schon jeder Jura-Student in seiner ersten Latein-Vorlesung: „Audiatur et altera pars – auch die andere Seite soll angehört werden.“
Mit Satire von Dieter Hildebrand möchte man Gabriele Frehse wirklich nicht zu nahetreten; trotzdem kommt einem bei dieser faktischen Vorverurteilung, Hildebrand's Weisheit in den Sinn: „Es hilft nicht, das Recht auf seiner Seite zu haben, man muss auch mit der Justiz rechnen“.

Aus eigener individueller Lebenserfahrung heraus sei auf eine von Imanuel Kant bereits vor 200 Jahren gemachte Regel verwiesen: „Nutze die Freiheit, von deiner Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen.“ - was man durchaus aus heutiger Sicht als erste Regel für Journalisten interpretieren könnte! Bezogen auf die vorliegende Problematik bedeutet das:
Pauline Schäfer hat ihr persönliches und auch weltweit durchaus relevantes Problem öffentlich gemacht, leider dabei auch unglücklich handelnd und scheinbar mit wenig guten Beratern an ihrer Seite. Natürlich steht es jeder Turnerin, jedem Turner zu, Ungerechtigkeiten und missbräuchliche Trainingspraktiken öffentlich zu machen. Alle wollen ja die mündige Sportlerin, den mündigen Sportler! Der weltweite Kampf gegen psychische Gewalt eines inhumanen Spitzensport muss mit der gleichen Konsequenz geführt werden, wie jener gegen das verbrecherische Dopingsystem.
Dafür besitzen wir besitzen doch auch schon, wenn auch nicht immer ausreichende, wissenschaftliche Erkenntnisse, Dokumente, Gesetze des Handelns. Berufsethos, hohes Fachwissen, psychologisches und pädagogisches Geschick sind die Handlungskriterien für alle Trainerinnen und Trainer, deren hoher fachlicher Wert und Status aber auch von der Gesellschaft anerkannt und geschützt werden muss!
Das technisch-kompositorische und ästhetische Kunstturnen ist eine hochkomplexe Sportart mit einem frühzeitigen Leistungstraining aufgrund der spezifisch guten , vor allem koordinativen Lernfähigkeit im Kindesalter. Dabei haben die Trainingspläne aber nicht nur der sportlichen Perspektive zu gelten, sondern parallel dazu auch der Entwicklung der Persönlichkeit.
Der Trainer trägt täglich eine hohe Verantwortung für die Gesundheit und Unversehrtheit der Turnerinnen und Turner. Dabei gilt immer, dass Freude und Liebe zur Sportart im Einklang bleiben mit den hohen Belastungen. Die Eltern vertrauen dem Trainer ihre Kinder an und verlassen sich auf dieses Vertrauensverhältnis.
Wenn der Chemnitzer Trainerin gerade das nun aber von allen Eltern der aktuellen Leistungsturnerinnen ihrer Trainerin bescheinigt wird, tut sich ein unverständlicher Widerspruch zu den beschuldigenden Vorwürfen gegen Frau Frehse auf.

Der „Aufschrei" aus Chemnitz-Altendorf zeigt aber auch, dass zweifelsfrei Systemfehler generell im deutschen Spitzensport dringend korrigiert oder abgestellt werden müssen.
Das löst man aber nicht mit individuellen Vorwürfen oder punktuellen Entlassungen.
Dazu gehören  akademisch-anspruchsvolle Ausbildung sowie eine ständige, weiterführende Qualifizierung, dazu Kontrollmechanismen und stärkere Einflussnahme in internationalen Gremien, national vorrangig und insgesamt eine gesellschaftliche Aufwertung des Trainerberufes.
So kann der weltgrößte Turnverband in Deutschland mit seinen über 5 Millionen Mitgliedern in seiner Rolle als Spitzensportverband nicht nur vorwiegend vom Ehrenamt getragen werden, sondern bedarf professioneller und hauptamtlicher Srukturen und Verantwortungsträger.
Der politische Wille und sportpolitische Sachverstand sollten zwingender hinterfragt werden. Doch ein Rückzug des Bundesinnenministeriums aus dem Prozess der Lösung solcher zwingender Probleme ist absolut nicht nachvollziehbar!

Ausgerechnet ein Fußballtrainer (mit einem hohen Schmerzensgeld) brachte es am 10. März 1998 mit einem Satz in seiner historischen Wutrede auf den Punkt:
Giovanni Trappatoni machte auch allen vermeintlichen Kennern des Sports klar, dass ein Trainer, eine Trainerin zur Personengruppe der ehrwürdigen Berufe gehört:
„ Ein Trainer ist kein Idiot!“

* Dieter Petersdorf (Jena)
  - freier Journalist
     (C) gymmedia