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Hatte Jahn wirklich einen Bart?

Prof. Dr. Gertrud Pfister, Berlin
DTB Vizepräsidentin Grundsatzfragen Gesellschaftspolitik

Für weite Teile der Bevölkerung, auch für viele Mitglieder von Turn- und Sportvereinen, scheinen Jahn und das Turnen heute wirklich "so 'nen Bart" zu haben. Dies meinten jedenfalls Sportstudenten und -studentinnen, mit denen ich in einer Sportgeschichtsveranstaltung über die Turnbewegung diskutierte. Viele wußten nicht einmal, wer "Turnvater Jahn" eigentlich war, noch weniger waren über sein Leben und Wirken informiert. Wenn Jahn heute wirklich einmal in die Schlagzeilen gerät, dann werden oft Vorstellungen verbreitet, die aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive nicht haltbar sind.

Kontrovers in Aussage und Beurteilung
Jahn ist sicherlich eine umstrittene Persönlichkeit, seine Schriften und Aktivitäten wurden in seiner Zeit und werden auch heute kontrovers beurteilt. Dabei ist allerdings die historische Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts - der Widerstand gegen die französische Besatzung und die Verbreitung liberaler und nationaler Bestrebungen - ebenso zu berücksichtigen wie die Widersprüchlichkeit vieler seiner Aussagen und Handlungen. Jahn war nicht weise und abgeklärt, das Bild vom "Alten im Barte" wird ihm nicht gerecht. Er war 33 Jahre alt und eher ein "Revoluzzer" als der Lehrer, der er eigentlich werden wollte, als er mit seinen Anhängern, überwiegend Schülern und Studenten, den Turnplatz auf der Hasenheide einrichtete. Jahn begeisterte seine Gefolgsleute aber nicht nur für das Turnen, sondern auch für seine pädagogischen und politischen Zielsetzungen: für die Volkserziehung, die Befreiung Preußens von der französischen Vorherrschaft, für die deutsche Einheit und für die politische Mitbestimmung des Volkes.

Was kann uns Jahn noch bedeuten?
Diese Ziele sind seit langem erreicht. Sind damit auch die Ideen und Konzepte Jahns ad acta zu legen? Was kann uns Jahn heute noch bedeuten?  Sicherlich können weder die Zielsetzungen und Vorstellungen Jahns noch die Übungen und die Praxis des Turnens einfach in die Gegenwart übertragen werden. Trotzdem kann eine kritische Auseinandersetzung mit positiven und negativen Aspekten der frühen Turnbewegung viele Anregungen bieten: Diskussionsstoff können beispielsweise die Einbettung der sportlichen Aktivitäten in einen politischen und pädagogischen Kontext, vor allem das Eintreten der Turner für die Menschen- und Bürgerrechte, aber auch die Vorstellungen von der Gleichberechtigung liefern, die in der einheitlichen Turntracht ihren Ausdruck fand. Die Ideen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen bezogen sich allerdings nur auf das "starke Geschlecht". Der Ausschluß der Mädchen und Frauen aus der Turnbewegung, seine Folgen für die Weiterentwicklung des Turnens und die Bedeutung der gegenwärtigen "Frauenmehrheit" im DTB sind ebenfalls Themen,die anknüpfend am Jahn'schen Turnen reflektiert werden sollten.
Vorbildhaft sind zahlreiche Komponenten der Turnpraxis: die Vielfalt der Turnübungen, die von Kunststücken an Geräten, über Laufen, Werfen und Springen, Klettern und Ringen, bis hin zu Spielen und Turnfahrten reichte; die Ablehnung von Drill; die Beteiligung aller an der Erfindung und Entwicklung von Übungen; die Bedeutung der relativen, an den körperlichen Voraussetzung des Turners gemessenen Leistungen; die Betonung der ganzheitlichen körperlichen und charakterlichen Ausbildung; das Ziel der "körperlichen Ertüchtigung" breiter Bevölkerungskreise; die Betonung von Spielen und Fahrten, die für die Jugendlichen besonders faszinierend waren; das Streben nach Gemeinschaftsgefühl und Gruppenzusammenhalt.

Tradition - kein Sofa
Wer einmal an den historischen Turngeräten auf der Berliner Hasenheide geturnt hat oder die Ausstellung im Jahnmuseum in Freyburg oder in der Gedenkstätte in Lanz, dem Geburtsort Jahns, besucht hat, erhält einen hervorragenden Eindruck vom Jahn'schen Turnen, der ihm auch einen kritischen Blick auf die gegenwärtigen Tendenzen im Sport ermöglicht. Die Beschäftigung mit Jahn und seinen Aktivitäten läßt die Geschichte und die Tradition des Turnens lebendig werden. Wenn man Tradition nicht als Sofa, sondern als Sprungbrett und Geschichte als Schritt zurück in die Zukunft betrachtet, dann ist die Auseinandersetzung mit Jahn einer der Schritte, die zur Entwicklung von Perspektiven für die Zukunft der Turnbewegung beitragen. Tradition ist zudem Voraussetzung von Zusammengehörigkeitsgefühl, das alle
Bewegungen brauchen, sie fördert die Identifizierung mit den Turn- und Sportorganisationen und ermöglicht dadurch den Aufbau einer corporate identity. Historisches Wissen und der Umgang mit Traditionen lassen sich in vielfältigen Formen vermitteln. Eine hervorragende Möglichkeit bieten dabei die bereits bestehenden Gedenkstätten und Museen, die als Bewegungs- und Begegnungsstätten ausgebaut und genutzt werden sollten.

Lanz - Berlin - Freyburg - eine gute Verbindung
Ein gutes Beispiel für die Verbindung von Sport und Tradition ist das Jahnturnfest in Freyburg, das eine von Jahr zu Jahr wachsende Zahl von Teilnehmern und Teilnehmerinnen in die Stadt an der Unstrut lockt. Es muß aber nicht immer ein Turnfest sein, Freyburg, Lanz oder Berlin sind immer eine Reise wert. Informationen über turnhistorische Bildungsreisen sind in einer Datenbank in der DTB-Zentrale in Frankfurt gesammelt. Eine gute Idee wäre es aber auch, für Alt und Jung, Turner/innen und Übungsleiter/innen, aber auch für alle, die sich für Kultur und Geschichte interessieren, kultur-, turn- und sporthistorische Fahrten anzubieten. Vielleicht finden sich ja Interessierte, die diese Idee aufgreifen und in die Tat umsetzen.

(Quelle: Website des Saarländischen Turnerbundes)

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