"... meine persönliche Rückblende!" |
... eine deutsche Rückblende
Unglaubliche 30 Jahre ist es her, als die Schwabenmetropole die 25. Turn-Weltmeisterschaften 1989 austrug. Nach Dortmund 1966 erst die zweite deutsche Gastgeberstadt in der Turngeschichte und dies inmitten der sich damals abzeichnenden und in Folge rasant vollziehenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüche in der damaligen "Noch-DDR".
In den WM-Tagen von Stuttgart war da in der Zeitung mit den "großen Buchstaben" zu lesen: "Mittwoch: Honeckers letzter Arbeitstag", und während sich das kleine "deutsche Ländle" im Osten gerade aufzulösen schien, mussten da junge Leute im DDR-Trikot körperlich und mental alles geben, kannten sie doch bislang nichts anderes, als eben unter ihrer "Hammer-Zirkel-und Ährenkranz-Flagge" ihren Staatsauftrag zu erfüllen: Die Überlegenheit des Sozialismus zu dokumentieren, als "Diplomaten im Trainingsanzug"!
Doch ihre Situation glich eher der totaler Verunsicherung:
Da beschworen vor Ort noch immer die DDR-Teamverantwortlichen in Presseveranstaltungen ihren "sozialistischen Auftrag und historischen Siegeswillen", legte der DTSB-Delegationleiter noch die Paare für den freizeitlichen Stadtbummel durch die Stuttgarter Innenstadt fest, um sich gegenseitig im Blickfeld zu halten.
Wir Journalisten am TV-Reportermikrofon hielten alles, was nicht unmittelbar zum Wettkampfgeschehen gehörte, geflissentlich `raus, aus unseren Kommentaren - so wie gewohnt - doch auch in unseren Köpfen fand nicht nur ein internationales Sportereignis statt: Und während sich zu Hause gerade das 40-jährige gesellschaftliche Experiment zerlegte - Ausgang damals eher noch ungewiss - hatten die Turnerinnen und Turner der DDR sich in "Grenzbereichen menschlicher Leistungsfähigkeiten" zu bewegen, um ihren Auftrag zu erfüllen.
Selbst noch aus heutiger Sicht eine unglaubliche psycho-motorische Grenzsituation, der man sich mal intensiver widmen sollte ..
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♦♦ 25. Weltmeisterschaften STUTTGART 1989
→ 49. Weltmeisterschaften STUTTGART 2019
Weltenwandel – Wertewandel
Eine historische Rückbetrachtung von Eckhard Herholz,
- damals WM-Fernsehreporter des DFF der DDR
Zum fünften Mal ist nun Deutschland in der Geschichte von Turn-Weltmeisterschaften seit 1903 Ausrichter dieses Großereignisses.
Dabei übernimmt Stuttgart nun – nach Dortmund (1966, 1994) – und nach 1989 und 2007 zum 3. Mal die Rolle des Gastgebers. Weil sich seit diesen 30 vergangenen Jahren die Welt nicht nur gedreht, sondern erheblich geändert hat, sei zunächst ein Rückblick an den Beginn einer aktuellen sportlichen Vorschau gestellt.
Es war damals ein Freitag, der 13. als in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle die 25. Jubiläums-WM mit einem speziellen Event-Song eröffnet wurde und unter der Regie von Rainer Pawelke von der Augsbuger „Traumfabrik“ u.a. Märchen aus dem Orient und ein „Hexensabbath“ inszeniert wurden...
Apropos "Hexensabbath"
– in der Finanzbranche wird damit ein dreifacher Verfallstag bezeichnet ... und das traf in makabrer Weise auch für das letzte DDR-Turnteam der Geschichte zu, ging doch damals gerade „deren Welt“ unter.
Während sich die Delegationsleitung des Vize-Olympiasiegers (Männer) von Seoul 1988 noch um „sozialistische Kontinance“ mühte, einige Vertreter noch kuriose Verteidigungsreden auf Pressekonferenzen hielten, und z. B. die DDR-Turner Sylvio Kroll und Sven Tippelt nur gemeinsam zu bestimmten, festgelegten Zeiten einen Innensstadtbummel in Stuttgarts Königsstrasse machen durften, da titelte die BILD-Zeitung bereits süffisant:
„Mittwoch: Honeckers letzter Arbeitstag“....
The „Little Champion ...”
Unter diesen Vorzeichen Spitzenleistungen im körperlich-mentalen Bereich zu bringen, war da auch eine Leistung, obwohl „... wir eigentlich dort als junge Leute kaum so richtig die Tragweite der Veränderungen gemerkt hatten...“, erinnert sich heute der damalige Potsdamer Überraschungssprung-Weltmeister Jörg BEHREND – Spitzname „Little“ nachdenklich, der den eigentlichen Favoriten und olympischen Silbermedaillengewinner Sylvio Kroll schlug und damit den ersten deutschen WM-Doppelsieg der Geschichte sicherte, gleichzeitig aber auch als der letzte DDR-Turn-Weltmeister in die Geschichte einging!.
„Wir waren doch als Leistungssportler ziemlich abgeschirmt in den verrückten September- und Oktobertagen. Wo schon viele DDR-Bürger über Ungarn ausreisten, trainierten wir noch wie die Wilden in Kienbaum. Erst nach Ende der WM kam es dann schluckweise. Ich erinnere mich da an die Heimfahrt, wo unsere Delegationschef vorn im Bus demonstrativ eine DDR-Fahne präsentierte und eine Brandrede über die historischen Vorzüge unserer sozialistischen Heimat hielt... das war schon ein wenig makaber!“
... und der Ost-Berliner Wecker-Trainer Lutz Landgraf erinnert sich noch heute, dass bei dieser Heimfahrt auf DDR-Gebiet in vielen Orten schon CDU-Flaggen gehisst waren, ... im Oktober 1989! Da stand die Mauer noch!
♦ Auch die Frankfurter Allgemeine gedenkt heute des letzten Turn-Weltmeisters der DDR, Jörg BEHREND: ► "Voll in den Stand" (FAZ, 03.10.2019)
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Auch ist zwar positiv, dass heute der Deutsche Turner-Bund die ansonsten so gut wie „vergessenen Leistungsgenerationen“, wieder nach Stuttgart als Ehrengäste eingeladen hat. Aber ansonsten sind diese Erfolge deutscher Turner einer einstigen internationalen Top-Nation im modernen Kunstturnen, hinter den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen dieses Zeiten- und Wertewandels, nahezu vergessen worden. Wurden die von der „Klassenkampffront draußen“ Heimgekehrten in der DDR früher mit ihren Prämien und öffentlichen Wertschätzungen bedacht, mussten die Stuttgarter Helden dann sogar noch um ihre Prämienzahlungen kämpfen.
„Sonst war da nicht mehr viel, die Leute hatten alle ganz andere Sorgen,“ so der Ex-Potsdamer Sprung-Weltmeister Behrend, „ich glaube, irgend jemand hat mir wohl noch eine ‚Verdienstmedaille der NVA’ (Nationale Volksarmee) umgehängt, ... ach, und Studiogast beim DDR-Fernsehen war ich auch noch, in der sogenannten „Halbzeitsendung“ des DFF. Der Moderator hieß damals Eckhard Herholz. Aber das war’s dann auch an öffentlicher Aufmerksamkeit.“
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... sprichwörtlich "die Schere im Kopf"
Und als DFF-TV-Sportreporter saß dieser Herholz zuvor auch am WM-Live-Mikrofon in der Schleyerhalle:
Wie üblich zu diesen Zeiten, blieb sehr oft die Wirklichkeit ausgeblendet. Dabei hatten wir es aber doch auch zu leicht. Wir konzentrierten uns auf die rein sportlichen Leistungen, hatten das Glück, dass uns durch die Superergebnisse des damaligen Sportsystems auch selten der Stoff ausging.
Kuriuoses Beispiel und eigentlich noch heute peinlich: Der als Konventionalausdruck lt. 'Code de Pointage' international gebräuchliche „Giengersalto’ hieß bei uns – pseudo-exakt „Deltschew-Salto, gebückt“, weil der Erfinder der Grundstruktur ein ‚sozialistischer’ Bulgare, der Veredler aber ein Vertreter des Klassenfeindes war ...
Dass wir dabei die Welt mit unseren ostdeutschen Scheuklappen betrachteten, wurde uns Sportjournalisten zumeist erst nach Wegfall derselben, und dann um so heftiger bewusst. Ein ebenso schmerzhafter Prozess, wie ihn anschließend viele ostdeutsche Biographien erlebten und oft schmerzhaft bewältigen mussten, vor allem jene, die erkannten, worin der eigene Anteil an Schuld bei der Berufsausübung bestand.
Bloß: Journalist in der DDR war oder wurde man nur, wenn man wahrlich DDR-Journalist war. Niemand hatte mich dort jemals „zensiert“ – man hatte die „Schere im Kopf“. Man wusste, was man zum „Ruhme der Deutschen Demokratischen Republik“ zu sagen, zu schreiben oder zu senden hatte und was man wegzulassen hatte, kannte man doch seit seiner Einschulung im weißen Hemd und mit blauem Pioniertuch, der Hand auf dem Kopf und dem Spruch „Immer bereit!“ nichts anderes. Man wollte sich doch auch einbringen, für die große historische Aufgaben den „besseren Staat“ auf deutschem Boden zu gestalten, wie es permanent hieß,... ehrlich, das wollten damals wirklich viele, auch wenn man heute verwundert hört, dass doch alle nur Mitläufer gewesen seien. Ein Staat mit reinen Mitläufern hätte sich nicht fast ein halbes Jahrhundert halten können...!
Dass dann aber zunehmend Missbrauch und Schindluder mit den vielen Ehrlichen getrieben wurde, dass Andersdenkende geringere Chancen und nur begrenzte Persönlichkeitsrechte hatten, gehört zu den erschreckenden Erkenntnissen der Ehrlichen, die ihre Mitschuld und Verantwortung heute betroffen eingestehen sollten – Nostalgiker ausgeschlossen!
Klassenkampfschlachten: Ost-Frust und West-Euphorie
Heftigstes Ereignis in den denkwürdigen Oktobertagen war auch das peinliche Ringe-Fehlurteil zwischen dem Ost-Berliner Andreas Wecker und dem West-Hannoveraner Andreas Aguilar.
* Vorwurf Ost:
„... der größten Betrugsskandal der Turngeschichte...!“
– weil die Akteure allerdings in umgekehrter Medaillenreihenfolge auf dem Podium standen, entgegen jeder nominaler Schwierigkeitsinhalte und auch für Laien qualitativ sichtbarer Ausführungsunterschiede!
“Absprachegemäß wären doch zwei deutsche Ringe-Weltmeister die in diesen verrückten Tagen sinnvollste Entscheidung, sogar mit historischer Tragweite gewesen“, sinniert der damalige DTV-Generalsekretär Klaus Heller heute. „Das hätten sogar wir DDR-seitig akzeptiert, obwohl sogar dagegen die objektiven Fakten gesprochen hätten! Aber verhindert hat das wohl damals Ringe-Oberkampfrichter ...!“
* Euphorie West: Nach dem „erklärten“ Ringesieg des Andreas Aguilar (- der faire Sportsmann hatte sogar später Andreas Wecker die Übergabe der Goldmedaille angeboten...!) war man nahezu blind vor Jubel. Der Gastgeber mit einem unerwarteten WM-Sieg, der sonst seit Giengers Zeiten medaillienlosen DTB-Turner ... ließ Objektivität so gut wie gar nicht zu, keine Spur von einer selbst vagen Ahnung eines sich bald wiedervereinigenden Deutschlands...!
Kein Vorwurf! Tatsachen, wer wusste schon, wo’s hinläuft in diesen Tagen...
Historische deutsche Turnleistungen
So gesehen muss man es als historisches Erfordernis sehen, echte Leistungen vor der Geschichte anzuerkennen. Getrennt vom ideologischen Ballast die Frage: Was sollte, was darf und was muss Bestand haben im öffentlichen Bewusstsein?
Dies fällt der Gesellschaft in vielen Bereichen leider noch heute sehr schwer, aber es wächst des Selbstbewusstsein der Ostdeutschen, diese Analyse längst selbst vorzunehmen.
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Dreißig Jahre und 20 Weltmeisterschaften später sind natürlich auch die internationalen Helden dieser ersten Stuttgarter WM nicht vergessen:
- Die unvergleichliche Mehrkampfsiegerin Swetlana Boginskaja, deren "Luftgitarre als Schlussakkord" ihrer einmaligen Bodenübung ich noch immer vor Augen und Ohren habe und die sich mit Rumäniens Daniela Silivash den Bodentitel, vor Christina Bontas, teilte ...;
- oder der Mehrkampfchampion Igor Korobtschinski aus der späteren Ukraine, der es insgesamt und später auf dreimal WM-Gold in Folge am Boden brachte.
Nicht zu vergessen der professionelle, kreative und umsichtige Organisationstab um STB-Chef Robert Baur, dessen gesamtes Team auch später diesen WM-Standort beim "DTB-Pokal" zum "Wimbledon des Kunstturnens" entwickelte und dessen umsichtige und warmherzige Pressebetreuerin Ingrid Flogaus uns Fernsehleuten das Arbeiten zur Freude werden ließ oder der höchst-geforderte damalige DTB-Pressechef Wolfgang Staiger, der in den WM-Tagen mit sehr vielen, sehr "komplexen deutsch-deutschen" Probleme konfrontiert war ... und noch viel mehr gäbe es zu sagen, insbesondere, was die Top-Leistungen der Athleten beträfe ....
♦ Ach ja, und da gab es ja 2007 auch noch eine weitere, die 25. Jubiläums-Weltmeisterschaft mit einem grandiosen Fabian Hambüchen ...
Und trotzdem seien mir die eingeschränkten, etwas sehr deutschen Erinnerungen an 1989 gestattet, war doch diese Stuttgarter und letzte WM auf geteiltem deutschen Boden eben etwas ganz Besonderes.
* Eckhard Herholz (GYMmedia INTERNATIONAL)
1989 TV-WM- Reporter des DFF der DDR.