Der zweimalige Deutsche Mannschaftsmeister (2008/2011) und 9-fache Medaillengewinner des letzten Jahrzehnts, TuS Chemnitz-Altendorf, hat auf Beschluss seiner Vereinsleitung den Rückzug aus dem Bundesliga-Wettkampfbetrieb der Deutschen Turnliga (DTL) mit Wirkung vom 1. Januar 2018 angekündigt.
Hauptgrund dafür ist die Entscheidung der DTL, das seit 14 Jahren bei den Männern angewandte sog. "Score-Punkt-Bewertungssystem" nun auch für die Mannschaftsmeisterschaft der Frauen einzuführen. Beschlossen wurde dies auf einer DTL-Mitgliederversammlung am vergangenen Sonntag (2. April) in Frankfurt/Main ...
♦ In einer DTL-Pressemitteilung heißt es dazu wörtlich: "Insgesamt 19 Mannschaften stimmten nach leidenschaftlicher Diskussion für die Angleichung des Wertungssystems, 11 waren dagegen und zwei enthielten sich. Das weltweit einmalige, duellbasierte Wertungssystem wird in der Männerbundesliga der DTL seit 14 Jahren erfolgreich eingesetzt.
Abstimmungsberechtigt waren neben den Erstliga-Vereinen auch Vereine der 2. und 3. Bundesliga ...".
Diese Enscheidung wird derzeit in Fachkreisen leidenschaftlich diskutiert.
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Eckhard Herholz, GYMmedia |
♦♦ GYMmedia-Standpunkte zum Scoresystem:
Unabhängig von der Tatsache einer Ausweitung auf den Frauenbereich (im Sinne der "Vereinheitlichung") steht das zusätzliche Score-Punktsystem schon länger in der Kritik:
Hauptkritikpunkte:
1. Es handelt sich dabei nämlich zu 100 % nicht um eine Bewertung individueller sportlicher Leistung, sondern um eine willkürliche Punkteinterpretation des Unterschiedes zweier Duellanten! Außerdem ist es n u r für das Aufeinandertreffen zweier Mannschaften anwendbar, hat darüber hinaus keinerlei weitere Bedeutung und ist für auswertende Leistungsinterpretationen journalistisch weitestgehend unbrauchbar!
2. Es verzerrt die nur noch hintergründige Punktvergabe der internationalen Wertungsbestimmungen gemäß Code de Pointage!
Außerdem führt es in Praxi zu kuriosen Konstellationen, z. B. derart:
→ Treten zwei Stars mit internationalen Spitzenleistungen und nahezu gleichwertig auf höchstem technischen Niveau an, unterscheiden sich aber nur sehr knapp in ihren Punkten nach Code de Pointage - bringt der um einen Hauch bessere Duellant evtl. nur 0 oder 1 Scorepoint ins Mannschaftsresultat ein.
→ Treten dagegen zwei Athleten niedrigerer Niveaustufe gegeneinander an, die sich aber im Punktwert mit größerer Differenz unterscheiden, sind 2 bis 5 Punkte fürs Teamresultat möglich. Dies führt somit nach allen Additionen zu einem völligen Zerrbild im Schlussresultat. (So hatte z. B. der Deutsche Meister KTV Straubenhardt im letzten Mannschaftsfinale 2016 eine geringere Punktzahl als Bronzemedaillengewinner MTV Stuttgart. * ... siehe auch ►► GYMmedia-News vom 03. 12. 2016)
Historisches: Wie es dazu kam ...
Man konnte ihn schon ob seiner "schlüssigen Idee" beneiden, diesen Ex-Turner und heutigen Geschäftsführer des MTV Stuttgart, Dr. Karsten Ewald, der als der eigentliche Erfinder des Scoresystems gilt: Damals war es selbst für gutwillige Anhänger dieser ästhetischen Turndisziplin schier unmöglich geworden, anhand der vergebenen Punktedichte im begrenzenden Zehner-Wertungssystem nachzuvollziehen, warum wer Gold und nicht Silber oder wer welche Platzierung in einem Turnfinale hatte: Diesen Tausenstel-Differenzen musste man damals einfach etwas Wirkungsvolles entgegen setzen! Da erfand Dr. Ewald diese Duelle für die Bundesliga und markierte deren Unterschiede in einem Fünfer-Punktesystem. Der Autor dieser Zeilen war selbst Moderator eines Testwettkampfes in Cottbus und ließ sich von der Begeisterungsfähigkeit des Erfinders und auch der hinlänglichen "Wirkung des Systems" mit begeistern ... wie gesagt, damals, in der verflossenen 10'er-Wertungswelt! * ... siehe ► GYMmedia-News 2003
Doch das nachfolgende "Überdecken" der weiterhin durch die Kampfgerichte ermittelten internationalen Punkte durch die zusätzlichen sog. "Scorepoints" ist spätestens seit Abschluss des Olympiazyklusses 2008 in Peking überflüssig geworden, seit sich das neue Wertungssystem bewährt hat, weil es besser differenziert und weil es für das interessierte Turnpublikum schlüssiger erklärbar geworden ist! Seither gab es des öfteren Pro- und Kontra-Diskussionen: * .. siehe ► GYMmedia-News 2012
Grundsätzlich: Wertungspopulismus schadet dem Ruf der Sportart!
10 Punkte + D-Wert (Schwierigkeit) ergeben einen Ausgangswert, d. h. geht ein Turner mit einem Ausgangswert von 17,600 ans Gerät, dann will er eine Schwierigkeit von 7.6 realisieren. Von den 10.0-Punkten (Substanz) werden dann die Abweichungen vom inhaltlichen Ziel, bzw. die technischen Unzulänglichkeiten als E-Note (Execution) abgezogen.
Werden diese korrekt, zeitnah und optisch wirkungsvoll (!) angezeigt, sind diese Werte für wissende Fach-Moderatoren für die Ränge gut erklärbar und vor allem: Sie sind am internationalen Niveau ausgerichtet!
Die Duelle zweier Athleten besonders zu betonen, ist und bleibt natürlich hervorragend! Wozu, zum Teufel, braucht es aber dann noch eine zusätzliche Punktvergabe, wenn man doch auch in der Differenz der konventionellen Punkte schon den Sieger erkannt und nach klar definierten Wertungsregeln (!) gekennzeichnet hat?
... oder will man jenen Turner mit vielleicht nur 1 Sturz als den großen Helden feiern, weil er seinen Gegner mit 2 Stürzen "übertrumpft" hat ...?
Spätestens hier wird Wertungspopulismus überdeutlich!
Von wegen, Scorepoints sind wie "Tore im Fußball" - Quatsch!
Das ist so, als würde man im Fußball statt der Tore das Eckenverhältnis entscheiden lassen!
Deutschland will 2019 die vorolympische Qualifikations-WM durchführen. Den Medienvertretern gegenüber muss man mit einer gültigen "Wertungssprache" gegenübertreten!
Es gibt keine Sportart, in der ein nationales Ligasystem das internationale Reglement und dessen Grundprinzipien (nämlich die sportlichen Leistungen) missachtet.
Zu Recht äußerten Journalisten zuletzt ihr Unverständnis bei der Interpretation der letzten Mannschaftsmeisterschaft. * ... siehe ►► GYMmedia-News, 3. Dez 2016)
Und dass DTL-Vertreter behaupten, dass seit der Einführung des Scoresystems das Kunstturnen im Lande einen Aufschwung erlebt hat, ist zu erheblichem Teile anmaßend, mindestens ungerecht: Es waren und sind in erster Linie die gewachsenen Leistungen der Athleten und ihrer Trainer, die dazu führten - natürlich auch die engagierten und überdurchschnittlichen Anstrengungen der Eventorganisatoren vor Ort und die "eingekauften" Ligalegionäre - aber medial gesehen ist die überregionale Außenwirkung der ersten Liga des zweitgrößten deutschen Sportverbandes nach wie vor untermaßig, ja fast nicht vorhanden!
Und was nun die Situation der deutschen Frauenligen betrifft:
- Man muss wohl nun das Oberhaus der 1. Liga in zwei Vierer-Staffeln (A und B) einteilen, um Mannschaftsduelle zu ermöglichen, also Team 1 vs. Team 2 und 3 vs. 4, bzw. in der B-Staffel Team 5 vs. Team 6 und 7 vs. 8. Das findet wohl dann gleichzeitig in einer Wettkampfhalle statt...? Wer, um Himmelswillen, soll da auf den Rängen den Überblick behalten ...?
- Ein weiteres Männer-Argument, nämlich die zusätzliche strategische Komponente des Geschicks der Trainer, wen setzte ich im aktuellen Wettkampfgeschehen gegen den soeben vom Gegner gewählten Kontrahenten ein, geht wohl bei den Frauen eher nach hinten los: Die meisten der Vereine sehen im Bundesligageschehen bestenfalls eine willkommene Variante des Erfahrungsgewinns: Oft sammeln hier bereits 12- oder 13-jährige Mädchen ihre ersten Wettkampferfahrungen, mit dem Ziel der Vorbereitung auf höhere nationale und internationale Aufgaben. Deren Wettkampfeinsatz muss sicher eher mit individuellem Fingerspitzengefühl der Trainer erfolgen, statt hier überraschenden adhoc-Entscheidungen im Scorepoint-Fight zu folgen.
- Das "scheindemokratische" Abstimmungsverhältnis der DTL-Mitgliederversammlung von 19 : 11 pro Scorepointsystem auch bei den Frauen, kam zustande, weil überraschend auch die Vereine der 2. und 3. Liga ebenso stimmberechtigt waren. Ursprünglich hatte wohl der Ideengeber dieses Scoresystems, Stuttgarts MTV-Geschäftsführer Dr. Karsten Ewald "sein" Scoresystem nur für die 1. Bundesliga der Frauen vorgesehen.
Und grundsätzlich: Muss es denn bei einem nationalen Ligasystem nicht in erster Linie darauf ankommen, als sinnhafte Vorbereitungsstufe auf internationale Aufgaben zu wirken, d. h. sich dem Ziel der Formierung einer leistungsstarken Nationalmannschaft zu verschreiben...?
Müssen dabei die Haltungen, Argumente und Stimmen der beiden Nationaltrainer inklusive der Nachwuchstrainer nicht unbedingt mit einbezogen werden? Die waren wohl aber gar nicht zu dieser Wahl eingeladen?!
Ist da etwa ein grundsätzlicher Interessenkonflikt zu vermuten? Das wäre ja wirklich furchtbar!
* Eckhard Herholz
GYMmedia INTERNATIONAL
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♦ Erste Reaktionen ... :
Einer der führenden und erfolgreichsten Frauenturn-Klubs, der TuS Chemnitz-Altendorf, kündigt für den 31. 12. 2017 seinen Austritt aus dem DTL-Bundesligabetrieb an.
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Ulla Koch (DTB) |
♦ Es liegt uns auch eine Stellungnahme zur Einführung des Scoresystems in der Bundesliga der Turnerinnen
von der DTB-Bundestrainerin Ulla KOCH vor:
"Wenn ich als Bundestrainerin mit der DTL vor der Abstimmung zum Scoresystem im Dialog stand und meine Meinung zu den unterschiedlichsten Punkten geäußert habe, dann nur aus dem einen Grund, nämlich aus dem ganzen Übel der Überlegungen zur Einführung des Scoresystem bei den Frauen, Wesentliches für die Weiterentwicklung der Turnerinnen in Deutschland zu erhalten.
Auf der DTL Tagung wurde mein Name dazu benutzt, für das Scoresystem zu werben. Dies war nicht abgesprochen, mir nicht bekannt und wäre von mir auch nicht autorisiert worden.
Das Präsidium der Deutschen Turnliga und die Mehrzahl der Vereinsfunktionäre (die Regionalligen haben auch mitgestimmt…) haben sich am letzten Wochenende dazu entschieden, das Scoresystem der Männerligen auf das System der Frauen zu übertragen. Dieses System wird bei den Männern seit 15 Jahren praktiziert und von der DTL als einmalig beschrieben. Einmalig deshalb, weil es von keiner Nation der Welt oder vergleichbaren Ligen übernommen wurde!
Die Trainerinnen und Trainer, die an den Bundesstützpunkten, Turnzentren und Landesstützpunkten arbeiten und die Kaderturnerinnen entwickeln und trainieren, wurden wenig gehört. Die Ablehnung des Scoresystem hatten die KadertrainerInnen der ersten und zweiten Liga mehrheitlich schon 2016 schriftlich der DTL mitgeteilt. Sowohl sie und auch ich als verantwortliche Bundestrainerin sind mehrheitlich weiterhin gegen dieses System ...:
• Was hat das System der Männer Positives bewirkt?
Alle Bundesstützpunkte im Osten sind aus dem Ligasystem ausgeschieden. Gründe ...???
• Die Meinung des DTL-Präsidiums und seiner Protagonisten ist, dass das Bewertungssystem der FIG schuld sein soll an fehlenden Zuschauerzahlen, der angeblich schlechten Stimmung der Zuschauer und das Fehlen einer Fankultur. Unglaublich. Der DTB-Pokal in Stuttgart hat sowohl im Weltcup als auch in den Teamwettbewerben gerade das Gegenteil bewiesen!!!
Für mich hat das "alte" System, angepasst an die internationalen Regeln des Weltverbandes, optimal die Belange des Spitzensports bedient! Und unsere Turnerinnen haben mit diesem System in Rio de Janeiro bewiesen, dass sie die Zuschauer in der Halle und an den Fernsehern zuhause mitreißen und eine super Stimmung erzeugen können.Und dann, am Ende, gab es in Rio auch eine Party, die haben wir uns verdient, weil wir im Vorfeld hart trainiert haben, unsere Juniorinnen u.a. über das Ligasystem heranführen konnten (siehe Tabea Alt), uns an den internationalen Ergebnissen und Wertungen orientiert haben, uns bei Bundesligawettkämpfen mit Weltklasseleistungen empfehlen konnten, uns auch über diese Wettkämpfe im Olympiazyklus zu internationalen Wettkämpfen qualifizieren mussten und mit unseren Zuschauern gemeinsam Spaß hatten.
Auch ohne Scoresystem!
Warum wurde was verändert, was aus meiner Sicht als Bundestrainerin gut gelaufen ist?"
Ulla Koch
- DTB-Bundestrainerin