Abstieg nach Gipfelsturm |
Eben erst Deutscher Mannschaftsmeister 2018 geworden, zieht sich nun auch der frisch-gekürte nationale Champion, die KTV Obere Lahn, aus der 1. Deutschen Kunstturnliga der Männer - nach 6 Jahren 2. Bundesliga und 7 Jahren Erstligapräsenz - zurück.
Zuvor musste in diesem Herbst bereits der MännerTurnVerein (MTV) aus der kommenden WM-Stadt Stuttgart aufgeben: zu wenig namhafte Zugpferde und Spitzenturner, vor allem fehlende Finanzen. Der Rückzug aus der Bundesliga der KTV Obere Lahn war bereits seit Längerem beschlossene Sache. Künftig soll in Biedenkopf der Fokus auf die junge Generation der eigenen Talente ausgerichtet werden.
Wenn von acht Erstliga-Vereinen 25 % die Segel streichen, muss man wohl von einer echten Krise sprechen, mindestens jedoch sachlich die Struktur hinterfragen, denn ...:
♦ ... die Misere deutschen Vereinsturnens auf Spitzen-Niveau ist ein bereits länger anhaltender Prozess:
Erfolgsmodelle sehen allerdings anders aus!
♦ ... trotz Aufwärtstrends nach Jahrtausendwechsel!
Dabei fehlte es nicht an kreativen Versuchen, neben dem Bundes- und Landesstützpunktstrukturen, auch ein nationales Ligasystem auf Teambasis zu etablieren, und es gab dabei auch durchaus erfolgreiche Phasen. Allerdings gründeten die sich auf den generellen Leistungsaufschwung, den das nationale deutsche Männerturnen spätestens wieder zur Jahrtausendwende mit positivem Trend vollzog.
Waren die langsam abklingende Erfolge der "Wecker-Ära" Mitte/Ende der neunziger Jahre z. T. noch der auslaufenden DDR-Laufbahnen mit deren systematisch aufgebauten Karrieren solcher Turner, wie Peter Nikiferow, Mario Franke, Oliver Walther, Frank Tippelt, Sylvio Kroll, René Tschernitschek, Maik Krahberg, Heiko Neugebauer u. a. geschuldet, baute ein damaliges Trainerteam um Nachwuchstrainer Andreas Hirsch bereits wieder eine neue Generation ganz junger Leute auf:
Die traten dann ab der Jahrtausendwende, erstmals sichtbar für die Öffentlichkeit, bei den Junioren-Europameisterschaften in Bremen (2000), in Erscheinung:
<< Allen voran mit dem Youngster-Trio Fabian Hambüchen, Waldemar Eichorn, Matthias Fahrig oder auch mit dem dann später tragisch verunfallten Cottbuser Mehrkampfmeister Ronny Ziesmer ...
Ihnen folgten dann solche talentierten Leistungsträger wie Eugen Spiridonow, u. a. ... dann der sensationelle Erfolg deutscher Junioren 2006 zur Kontinentalmeisterschaft in Volos (GRE) mit dem Team-Titel, wo mit Max Finzel, Brian Gladow und Steve Woitalla als ein deutsches Trio gar unter den besten 5 Turnern (!) der JEM war und mehrere Titel holte.
Und natürlich war es die schon in Bremen 2000 begonnene unvergleichliche Weltkarriere eines Fabian Hambüchen, mit autarker und individueller Akribie geführt, bis hin zu seinem Olympiasieg 2016, was wie ein Katalysator wirkte, für den Aufschwung der medialen und öffentlichen Aufmerksamkeit im Lande sorgte!
Und Hambüchen war dabei kein einzelner Sonderfall: Ihm zur Seite und auf Augenhöhe war mit Philipp Boy ein Mehrkampf-Vize-Weltmeister und Europameister, holte sich das begnadete Talent Marcel Nguyen Olympiasilber im Mehrkampf und waren um diese Exponenten herum eine erkleckliche Zahl herausragender Mannschaftsturner, wie Thomas Taranu, Sebastian Krimmer oder Andreas Toba, Andreas Bretschneider ...
♦ Nationales Liga-Turnen - internationale Prioritäten
Permanenter Widerspruch ...?
Davon profitierte und lebte erstrangig auch das DTL-Geschehen!! All dies waren die an internationalen Maßstäben ausgerichteten und erfolgreichen Leistungkarrieren einer fast 2 Jahrzehnte langen Erfolgsspur, gelegt und geleitet von Andreas HIRSCH als verantwortlichem Bundestrainer, der es zumeist geschickt verstand, die Interna der Verbandsstruktur eines keineswegs allzusehr spitzensportfreundlichen Dachverbandes (DTB) mit den vereinsinternen Besonderheiten verschiedenster Leistungszentren einigermaßen geschickt zu verbinden (- manche Zungen behaupten, das, was aus einem Hambüchen geworden ist, ist er "nicht durch - sondern trotz DTB" geworden ...!). Sei es, wie es sei!
Allein vom diesem hohen internationalem Leistungsniveau deutscher Nationalturner profitierte die Deutsche Turn-Liga im beschriebenen Zeitraum!
Noch genauer: Eine deutsche Turnliga ist nur so gut wie das Niveau seiner Exponenten, gemessen am internationalen Level!
Und genau im aktuellen Niedergang dieses Leistungsniveaus liegt nämlich auch die aktuelle DTL-Krise begründet.
Dabei nützen all die (für verhältnismäßig viel Geld) eingekauften in- oder ausländischen Leistungsträger überhaupt nichts, wenn es in den Heimatvereinen nicht gleichzeitig und ausreichend gelingt, den eigenen Nachwuchs für einen - zugegebener Maßen langen - Weg anzustrebender internationaler Spitzenleistungen zu motivieren!
So war es beim letzten, aktuellen Liga-Finale 2018 sehr traurig zu sehen, wie inhaltlich und technisch blass die deutschen Nationalturner gegenüber den Gaststartern aus dem Ausland blieben und wie wenig (noch) erste zaghafte Junioren-Ansätze internationalen Ansprüchen dieses Altersbereiches genügten. Man kann förmlich Angst bekommen ob der Olympiatauglichkeit der aktuellen Leistungsjahrgänge!
Zudem verkleistert sich die DTL seit über einem Jahrzehnt die Augen mit einem sonderbaren Wertungsmodus, der unsportliche Punktunterschiede in kuriose Score-Points umrechnet, die die wesentlich objektivere echte Leistungsbewertungen lt. FIG-Code (wie bei Olympia, WM und EM üblich) in die zweite Reihe rücken lassen. Und ausgezeichnet werden bei der DTL nicht die herausragenden international-wertvollen Turnleistungen, sondern Top-Scorer kann man bei der DTL eben auch werden, wenn man auf "kleiner Flamme", aber eben fleißig, an allen Geräten punktet oder gerade mal einen aktuell schwächeren Duell-Gegner erwischt.
♦ Bilanzierend muss man sagen:
Es gibt in Deutschland selbst momentan zu wenig Spitzenturner, um die sich zudem noch die Bundesligavereine streiten. Wer am meisten cash zahlt, holt sich die Besten - eine Methode, die im bundesdeutschen Sport und anderen Sportarten völlig normal ist - im Kunstturnen mit seinem langfristigen und kompliziertem Leistungsaufbau ist es akut kontraproduktiv!
Man sollte sich wohl dringend über Sinn und Unsinn dieser Liga streiten oder besser noch:
Die Idee, eine tatsächliche ERSTE NATIONALE KUNSTTURNLIGA enger an die Förderstrukturen der Bundesstützpunkte zu koppeln, sowie deren Teams vorrangig mit Nationalturnern, ergänzt durch jugendliche Nachwuch-Kadersturner (3/2) und eine sinnhafte Ausländerstartregelung starten zu lassen, erscheint wohl dabei gar nicht mehr so abwegig!
(Bisherige DTL-Strukturen ab 2. Liga abwärts - inklusive eines sinnhaften Auf-/Abstiegsmodus - sollten dabei durchaus weiterzuführen sein.)
Und: Aktuell schaue man auf solche Vereine, wie den SC Berlin oder den SC Cottbus, deren vereinsinterne Taktik und Logistik - bei allen Defiziten der gesellschaftlichen Gesamtsituation - erstrangig und wirksam auf Nachwuchssichtung und -entwicklung ausgerichtet ist,
Oder man blicke auf auf Vereine, die diese Entwicklung wieder forcieren - wie z. B. die "Eintracht Frankfurt", z. B. oder der TuS Vinnhorst oder auf den Frauen-Spitzenklub TuS Chemnitz-Altendorf, dessen Hauptstrategie - nach Rückzug aus dem DTL-Erstligageschehen - eindeutig in Richtung internationalen Spitzenniveaus zeigt.
Wenn nun auch Meister KTV Obere Lahn künftig also den Fokus auf seine zweite Mannschaft ausrichten will, dann macht das ebenso Hoffnung, denn dieses Team besteht aus eigenen Talenten und hat sogar die Chance, aus der 3. Liga in die 2. Bundesliga aufzusteigen.
Somit sollte doch Turndeutschland längst noch nicht verloren sein!
* gymmedia / E. Herholz
* Lesen Sie dazu auch:
► MTV Stuttgart: Warum die Frauen an der Macht bleiben (Stuttg. Ztg.)
► 50. Saison: 1. Turn-Bundesliga, Männer, 2018 (gymmedia)