Mitglieder der deutsch-deutschen Olympia-Turnriegen aus den Sechzigern vor der historischen Fahne der Deutschen Turnerschaft in der Jahn-Ehrenhalle in Freyburg/Unstr. |
Das inzwischen 7. Traditionstreffen der einst im geteilten Deutschland gemeinsamen deutschen Olympiariegen der deutschen Turner von Rom 1960 und Tokio 1964, fand am vergangenen Wochenende in Leipzig statt. Diese Tradtion, die auch die beiden damals getrennt startenden ost- bzw. westdeutschen Nationalmannschaften zu den Weltmeisterschaften 1958 (Moskau) und 1962 (Prag) umfasst, wurde in den neunziger Jahren vom Cottbuser Ex-Trainer Bernd Heide begründet und von den 58'er-WM-Teilnehmer Gottfried Stark (Leipzig) und Fritz Böhm (Lauscha) weitergeführt und stellt seitdem im Zweijahresrhythmus herzliche, menschliche Sportlerfreundschaften unter Beweis, die im Gegensatz zu den damaligen politischen Kontroversen aus der Zeit des kalten Krieges die Zeiten überdauert haben.
Auf dem Programm dieses Treffens stand am Abschlusstag auch ein Besuch der Jahnstadt Freyburg an der Unstrut ...
In Freyburgs Jahn-Ehrenhalle, vor Traditionsbanner der Deutschen Turnerschaft:
*v.l.: Heinrich Kurrle (west), Gottfried Stark, Wolfgang Gipser, Fritz Böhm (alle ost)
*von rechts: Herbert Schmitt, Phillipp Fürst, Lothar Lohmann (alle west)
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Günther Jacoby, Philipp Fürst im Gespräch mit Peter Weber, Günter Lyhs und Willi Jaschek |
Gelebte Turngeschichte...
Erstmals sahen sie sich zwei Tage vor der Deutschen Einheit am 1. Oktober 1990 wieder, damals aus Anlass des historisch ersten Wettkampfes eines wiedervereinten Sportteams nach der Wende: "Kunstturn-Masters 1990" in der Olympiahalle München, Turner Ost+West gegen UdSSR und USA.
Seither hatten sich die deutschen Männerturnriegen der Olympiajahrgänge 1960/64 und der WM-Riegen 1958/62 bereits weitere sechs Mal getroffen.
Vor 4 Jahren, beim 5. Treffen an der Sportschule Bad Blankenburg konnte man bereits auf fast ein Jahrzehnt regelmäßiger Begegnungen zurückblicken.
(>> siehe GYMmedia-Bericht vom 28. September 2005).
Nach dem letzten Treffen vor zwei Jahren, am Rande der Turn-Weltmeisterschaften 2007 in Stuttgart, luden Olympiasieger Klaus KÖSTE und die Ex-WM-Teilnehmer Frank TIPPELT, Karlheinz FRIEDRICH und Prof. Dr. Gottfried STARK nun die Turnfreunde mit ihren Ehegattinnen in die vielmalige Turnfeststadt Leipzig ein...
7. TRADITIONSTREFFEN 2009
WM Nationalmannschaften DDR & BRD 1958, 1962
Gemeinsame deutsch/deutsche Olympiariegen 1960 & 1964 - Leipzig / Freyburg, 4. - 6. September 2009 -
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In gesellige Abendrunden wurden stimmungsvolle Erinnerungen wach. Natürlich gab es das volle Leipziger Touristenprogramm, mit Stadtrundfahrten - u. a. in sanierte Gegenden, die selbst die Einheimischen ins Staunen brachten - zum Völkerschlachtdenkmal, zur Thomaskirche, natürlich in Auerbachs Keller, natürlich inklusive des traditionellen "Verjüngungstrunks" ...!
Und immer wieder die Geschichten aus alten, aktiven Zeiten, als man sich noch in den "Gräben des Klassenkampfes" und ziemlich feindlich gegenüberstand, Geschichten, die natürlich von Jahr zu Jahr nuancenreicher und bunter werden, denn alle Spitzenturner haben da ihre eigenen Sichten auf die Dinge, wie z. B. die leidigen Ausscheidungswettbewerbe ...:
Turnriege West (li) - Turn-Riege Ost: |
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Medaillen nach fast einem halben Jahrhundert...?
So stellte man fest, dass es 1964 in Tokio, als die Riege Ost/West erstmals die Mannschaftsbronzemedaille gewann, nur eine einzigeTeam-Medaille gegeben hat. Irgendwann hatten zwar die beiden Vertreter der Bundesrepublik, Philipp Fürst und Günter Lyhs im Westen ein Duplikat auf Initiative Willi Daumes bekommen.
Siegfried Fülle, dem Kapitän (DDR), hatte man zwar damals die einzig echte Medaille übergeben. Die musste er aber beim damaligen Generalsekretariat des Deutschen Turn-Verbandes der DDR (DTV) abgeben. Zur wirren Wendezeit ist die von der Bildfläche verschwunden, keiner weiß wohin ...
So hat sich nun Philipp Fürst vorgenommen, sich an IOC-Mitglied Walter Tröger zu wenden, damit die vier Teammitglieder aus dem Osten, Siegfried FÜLLE, Erwin KOPPE, Peter WEBER und Klaus KÖSTE ihre Medaillen noch nachträglich bekommen - nach fast einem halben Jahrhundert!
Der damals beste deutsche Turner, Siegfried Fülle (DDR; Podium, rechts) nahm die einzige Bronzemedaille fürs gesamte deutsch-deutsche Team entgegen. |
Bester bundesdeutscher Turner war damals Philipp Fürst (TB Oppau 1889). Der Vize-Europameister von 1961 in Luxemburg (- gemeinsam mit Viktor Leontjew, URS), war erstmals in der Jahnstadt Freyburg und staunte über den Top-Zustand der historischen Jahn-Turnhalle (Hintergrund, rechts) |
Besuch der Jahnstadt FreyburgMit Erstaunen stellte man fest, dass die Mehrzahl der Ex-Turner die Stadt des Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn, zum ersten Male besuchte!
"Wer nie in Freyburg war, hat nie geturnt!" - heißt es nämlich mit Augenzwinkern bei jenen, die das jährliche Jahnturnfest besuchen, zu dessen 87. Auflage vor wenigen Wochen wieder weit über 1.000 Teilnehmer in volkssportlicher Manier und altersklassengerecht, die olympischen Geräte beturnten.
Echtes Staunen entstand auch beim Besuch der alt-ehrwürdigen Jahn-Ehrenhalle, auf dessen überlebensgroßes Jahnstandbild die farbigen Schatten der imposanten historischen Bleiglasfenster fallen, ein jedes den Städten der Deutschen Turnfeste der Geschichte gewidmet.
Gruppenfoto vor der Jahnbüste am Giebel der historischen Jahnturnhalle |
Interessant auch der Gedankenaustausch der ehemaligen Bewegungskünstler - selbst z. T. schon alle um oder über die 70 Jahre - als sie in der hervorragend renovierten historischen Freyburger Turnhalle alte, historische Säulenreck-Anlagen oder die Haken eines "Rundlaufs" an der Decke entdeckten, der im heutigen Schulsportunterricht so gut wie unbekannt ist.
Beklagt wurde in diesem Zusammenhang im Ursprungsland des Turnens und nun der Hambüchen, Boy, Fahrig und Co., derzeit die sträflichst vernachlässigten fehlenden Inhalte komplexer, turnerischer Anforderungen in den Lehrplänen, bzw. in der Praxis des Sportunterrichts an heutigen deutschen Schulen.
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Die beiden besten deutschen Turner der sechziger Jahre, Philipp FÜRST (west) und Siegfried FÜLLE (ost) am Grabe des Begründers des Turnens, Friedrich Ludwig Jahn. |
Beeindruckt zeigten sich die Gäste auch über die Entwicklung der Stadt und die Weintraditionen des Saale-Unstrutgebietes, was Freyburgs junger Bürgermeister Udo MÄNNICKE - der zu aktiven Zeiten seiner Gäste noch gar nicht geboren war - lebhaft in seiner Empfangsrede darzustellen wusste.
Am Grabe des Begründers des Turnens, des schon zu seinen Zeiten streitbaren und bis heute nicht unumstrittenen Friedrich Ludwig Jahns, legten die ehemaligen Spitzesportler ein Blumengebinde nieder.
Einhellig jedoch war bei allen die Haltung, dass es als Erben seiner Turnkunst, das Wertvolle und die Jahrhunderte überdauernde Vielfalt des Turnens an Geräten zu pflegen und zu erhalten gilt, im Breitensport, im Schulsport ebenso, wie auf den internationalen Podien des Kunstturnens.
In dieser Delegationen der früheren Olympia- und WM-Turner fand die Geschäftsführerin der "Friedrich-Ludwig-Jahngesellschaft", Frau Ilona KOLBERG, natürlich aufmerksamste und nachdenkliche Zuhörer, vor allem, als sie über die Probleme bei Wert- und Substanzerhaltung der einmaligen Jahn-Gedenkstätten in Freyburg sprach....
Die Sektkellerei 'ROTKÄPPCHEN' in Freyburg besitzt das größte Cuvée-Weinfass Deutschlands (re.) mit einem Volumen von 120.000 Litern (160.000 Flaschen). |
Obligatorisch war natürlich der Besuch von Freyburgs Sektkellerei "Rotkäppchen".
Mit seiner Erfahrung von Jahrzehnten wusste das Freyburger "Urgestein" Wolfgang WIEGAND unendlich spannende Geschichen über Entstehung, Traditionen, Werdegang und Besonderheiten der Sektproduktion zu erzählen und mit welch politischem Geschick und technologischem Know-how sich das "Rotkäppchen"-Label nach der politischen Wende zur führenden deutschen Marke entwickelte.
Das Wochenende der Begegnung klang dann wieder im Stamm-Quartier, in Leipzigs Sportschule "Egidius Braun" aus.
** Presse:
Auch die Leipziger Volkszeitung widmete diesem Ereignis einen Artikel, ein Erlebnisbericht, verfasst von Karlheinz FRIEDRICH, der selbst Olympia- und WM-Teilnehmer 1958/'60 war:
>> Turner in der Fußball-Schule (LVZ, 09.09. 2009)
Als Ort des 8. Treffens 1911 wurde Gummersbach festgelegt - und damit, und auf Einladung Ulla ZSCHUNKEs und ihres Sohnes Oliver, des leider viel zu früh verstorbenen WM-Turners von 1958 (DDR) und späteren Kunssturnwartes Klaus Zschunkes (BRD) gedacht ...
Unterstützung will dabei auch der im nur wenige Kilometer entfernten Kierspe lebende Olympiaturner Günter LYHS geben...!
Nicht nur im 20. Jahr des Mauerfalls sind das die echten und wichtigen Geschichten des Lebens, deren Grundlagen man in Herzen und Hirnen der jungen Leute auch in heutigen, modernen Zeiten des Spitzensports legen muss.
* Bericht & Fotos: Eckhard Herholz
GYMmedia INTERNATIONAL